Mit Verve gegen Ressentiments
«Dass große Teile der Verwaltung, Ministerien, und Medien lieber auf unseriöse Pamphlete zurückgreifen, während die differenzierte wissenschaftliche Forschung kaum wahrgenommen wird – diese Entwicklung ist in der Tat besorgniserregend. In der öffentlichen Diskussion führt die Ignoranz gegenüber der Wissenschaft nicht nur zu ungenauen und vorurteilsbeladenen Vorstellungen über den Islam und die Migranten, sondern auch zu einer Verengung des Themenspektrums. […] Es wird also Zeit, eine rationale Diskussion über die zukünftige Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft zu führen. Doch das kann man nicht auf der Grundlage von Boulevardliteratur tun, sondern indem man sich auf Erkenntnisse stützt, die auf rationale Weise gewonnen wurden».
Dies bemerken Yasemin Karakasoglu und Mark Terkessidis 2006 in einem offenen Schreiben, das von 60 Migrationsforscher*innen unterzeichnet wurde, gegen ein kulturalistiches Pamphlet der «Islamkritikerin» Necla Kelek. Das Anliegen ist zehn Jahre später aktueller denn je. Antiintellektualismus vermengt mit rechtsbürgerlichen Reduktionismen, der wiederum in immer beängstigenderer Kadenz ins Kulturalistische und Völkische ausschlägt – auf der Strecke bleiben die Themen, welche unser Leben wirklich betreffen, abgewürgt die Diskussionen, welche zu führen sich tatsächlich lohnte.
Theorie statt Trump!
Die Augen, durch die wir die Welt betrachten, werden durch Erfahrungen geprägt, was man allerdings beeinflussen kann. Unabhängig davon, wie viele Eindrücke und Nachrichten auf uns einprasseln und uns in Gefahr bringen, auszubrennen, abzustupfen oder den Verstand zu verlieren, es gibt keine Wege und keine Ausreden, welche den gezielten Medienkonsum ersetzen würden. Wobei Konsum dann eben zu Auseinandersetzung wird, mit Themen und möglichen Schlüssen, die dem gefühlsbasierten Vorurteil nicht entsprechen und einem möglicherweise nicht gefallen wollen. Doch, wie das Sprichwort besagt, man ermächtigt sich auf diese Weise, «die Welt mit anderen Augen zu betrachten».
Postfaktisch wurde die politische Gegenwart auch schon genannt mit Verweis auf den US-Berlusconi Trump und seiner rekordverdächtigen Bullshitquote. Oder mit dem Verweis auf postmoderne Philosophie, die – ein Bolognaphänomen – kaum je annehmbar studiert wird. Unterschlagen wird dabei, dass keine noch so postmoderne Philosophie jemals versuchte, Fakten zu dekonstruieren: stattdessen problematisierte sie mit beinharter Konsequenz zu einfache Wahrheitskonzepte. Dies erklärt der kritische Historiker und Foucault-Spezialist Philipp Sarasin in der Online-Plattform Geschichte der Gegenwart, welche gerade zu dem Zweck gegründet wurde, ideologische Debatten mit gehaltvoller Kritik zu kontern und dem haarsträubenden Weltwochenbullshitjournalismus Äusserungen entgegenzustellen von Leuten, die Themen erforschen, bevor sie sie kommentieren.
Die Vielheit der Parapolis
Worte wie «Kultur» und «Integration» werden in der medialen Öffentlichkeit zu leichtfertig herumgereicht, gerade in Kombination. Einspruch dagegen übt der Migrationsforscher, Autor und Journalist Mark Terkessidis in seinem Essayband Interkultur. Reich an Beispielen und in sehr lesbarer Sprache führt er in seine Konzeption einer Parapolis ein, neugriechisch für einen Ort des «sehr viel». Er weist damit auf tote Winkel herrschender Demokratie-Vorstellungen:
«Immer mehr Menschen leben an mehreren Orten zugleich und an diesen Orten sind sie jeweils keine ‹vollen› Rechtssubjekte mehr. Die Ausübung von Rechten ist immer noch an die Sesshaftigkeit gebunden, und in diesem Sinn dürfen die erwähnten Personen an ihren aktuellen ‹Lebensmittelpunkten› nicht am Leben der Polis teilnehmen. Tatsächlich ist jene Polis längst auseinandergefallen. Die Stadt hat sich zu einer vielgliedrigen Parapolis entwickelt».
Und weiter:
«Tatsächlich könnten allein an das ‹Da-Sein› von Personen schon bestimmte Rechte gekoppelt werden, die so etwas ermöglichen wie eine Teilhabe im Vorübergehen, das ‹Recht auf einen Ort›».
Integration ist scheisse!
Entgegen einem Politik-Verständnis, wie demjenigen, das «Integration» fordert, steht ein solches, das auf «vielfältige Wahrheiten» und die «widersprüchlichen Bedürfnisse, Wünsche, Ambitionen, Motivationen, Leidenschaften und Gleichgültigkeiten» der «Menschen auf der Straße» fokussiert, da keine «einfachen Wahrheiten» diesen entsprechen können. «Integration» ist ein Hegemoniekonzept einer konstruierten Mehrheit, notabene einer Mehrheit, die mehrheitlich nichts über die unbekannte Zukunft weiss, da man solche Dinge nicht wissen kann. Geschichtsbewusstsein könnte helfen, Vergangenheitsromantik konservativer oder explizit völkischer Prägung, die diesbezüglich nichts anderes ist als eine Art politischer Salafismus eurozentrischer Kulturalisten, würde den Karren stattdessen mit Hochgeschwindigkeit an die Wand fahren.
Ähnliche Einwände waren schon von queertheoretischer Seite zu hören, wo mit dem Slogan «Toleranz ist scheiße!» eine Frage aufgeworfen wird, die zum Nachdenken zwingt. Von einer heteronormativen Leitkultur als exotisierte Randgruppe akzeptiert zu werden, läuft dem revolutionären Anliegen zuwider. Das gilt bei allen Formen von Unterdrückung. Terkessidis spricht deshalb von Interkultur im Singular, da es nicht darum gehen kann, vermeintliche Kulturkisten gegeneinander auszuspielen, sondern darauf hinzuweisen, was alles in der Zone des Dazwischens abgeht, auf «Kultur-im-Zwischen»: «Es geht um das Leben in einem uneindeutigen Zustand und die Gestaltung einer noch unklaren Zukunft. […] Es geht um das Knüpfen neuer Beziehungen».