Westliche Krokodilstränen sind irrelevant
«Thy hand, Belinda, darkness shades me
On thy bosom let me rest,
More I would, but darkness invades me;
Death is now a welcome guest.
When I am laid in earth, may my wrongs create
No trouble in thy breast;
Remember me, but ah! Forget my fate».
In der Aeneis des Dichters und Epikers Publius Vergilius Maro (dt. Vergil) verflechten die Gründungsmythen Karthagos und Roms, wobei der historische Charakter einigermaßen angezweifelt werden darf, da Protagonist Aeneas als Prinz Trojas den Untergang Trojas miterlebte, was heutigen Forschungen nach zumindest 400 Jahre zuvor stattgefunden haben muss.
Dido (oder Elyssa) stammt laut römischer Geschichtsschreibung aus Tyros, einer der wichtigsten phönizischen Handelsstätte im heutigen Süd-Libanon. Die Königstochter floh vor ihrem despotischen Bruder Pygmalion und gelangte so an den Golf von Tunis, wo sie im Jahr 814 v.vulg.Z. durch einen Trick Karthago gründete. (Der ortsansässige Numidierkönig (Berber) Iarbas versprach ihr soviel Land zu schenken, wie sie mit einer Kuhhaut umspannen kann. Sie schnitt diese in dünne Streifen und konnte so den Küstenstreifen umreißen, auf dem später die Byrsa gebaut wurde).
Auf der Flucht von Troja landet Aeneas am Golf von Tunis und wird von der karthagischen Königin Dido als Gast aufgenommen. Es entwickelt sich eine Liebesgeschichte, wobei Liebe von Vergil als Gift und zerstörerische Flamme beschrieben wird. Weiter handelt es sich dabei um eine Art «verbotener Liebe», da Dido einst einen Eid schwor, sich nie wieder auf einen Mann einzulassen/ ihrem ermordeten Gatten treu zu bleiben.
Ermutigt von ihrer Schwester Anna bricht Dido diesen Eid jedoch. Dabei handelt es sich durchaus um Selbstermächtigung, da sie mit dieser Tat gegen die Götter rebellierte. Die Götter reagierten, indem sie Aeneas an seinen Schicksalsauftrag erinnerten, ein neues Troja zu gründen in dem verheißenen Land Latium, wobei dieser sofort gehorcht und die Abreise vorbereitet. Später wird er in Latium das römische Reich gründen.
Als er Dido sein Vorhaben unterbreitet, wirft diese ihm vor, Krokodilstränen zu weinen, und schickt ihn weg, als er wankelmütig wird.
Der Legende nach bringt sich Dido daraufhin mit Aeneas Schwert auf einem Scheiterhaufen um, schwört aber noch Rache, was als Grundlage für die punischen Kriege gewertet wird. Geographisch im Zentrum des Geschehens: Lampedusa.
Die Liebesgeschichte wird unter Anderem auch als «Allegorie des atlantischen Schicksals» gelesen, wobei das Paradoxon in Didos Klagelied «Erinnere dich an mich, aber vergiss mein Schicksal» nur vermeintlich kontradiktorisch ist: Seien es Flüchtende auf dem Mittelmeer, oder Sklaven in den West-Indies, zumeist erinnert Europa sich an Schicksale, an Opfer, eher denn an Menschen.
Joseph Roach macht in seiner Interpretation noch eine weitere Wendung, wobei er auf Eroberer verweist, welche sich praktischerweise nur an die tiefe Liebe zu den Menschen erinnern, deren Kulturen sie in Flammen hinterließen.
Mit dieser Erklärung fällt es auch nicht mehr allzu schwer, Liebe mit Vergil als Gift und zerstörerische Flamme zu sehen.
Elizabeth Freeman zeigt auf, dass man Dido’s Lamento nicht nur als Klagelied für afrikanische Kulturen lesen kann, sondern auch als eine Kritik am liberalen Kapitalismus und dessen Bedeutung für die Sklaverei. Zu Purcells Zeit hatte die Royal Africa Company ihr Monopol am Skavenhandel verloren, und diesen für den «freien [sic!] Markt» geöffnet.
In Isaac Juliens Film kommt auch Dido’s Rache wieder zu tragen: Im Unterschied zu Tates Libretto steht ihr Versprechen, wieder von den Toten zurückzukommen, bei Julien im Zentrum.
Schließen könnte man interpretierend: Die Gründung des imperialen Westens (Aeneas) beruht auf der westlichen Nötigung Afrikas/Didos zu Selbstmord, wobei Afrika/Dido als Untote erscheinen und triumphieren wird. Bis dahin soll eine befreundete/liebende Person (Belinda/oder die Zuschauerin im Film) – und nicht Aeneas/der Westen – sich Afrikas erinnern, ohne es aber auf eine Opferrolle zu beschränken. Wie Dido wird Afrika den einstigen Tod überleben und selbst zu seiner Rache kommen. Die westlichen Krokodilstränen (etwas auffressen und gleichzeitig darüber weinen) sind irrelevant.