Mordor liegt im grünen Auenland
Fabian Renz, Bundeshausredaktor des «Tagesanzeigers», liess Ende des sicherlich schwierigen Jahres 2016 einen Stossseufzer in die Weiten des Worldwideweb entweichen: «Liebe Landbevölkerung, wir müssen reden», konstatierte er, da im kommenden, auch schon als «Schicksalsjahr Europas» benannten Jahres 2017, einmal mehr die «Dörfler» entscheiden werden würden, was passiert. Trump und Erdogans Islamismus nennt Renz als Beispiele der durch die Landbevölkerung gegen die Städte ermöglichten politischen Katastrophen. Die schweizerischen Beispiele sind so evident, dass er sie gar nicht erst anfügen muss.
Millius will uns jodeln hören
Stefan Millius wiederum, tags darauf mit einer sehr eloquenten Reaktion, fordert die Städter auf, mehr zu jodeln, und streitet sophistisch ab, dass die Landbevölkerung konservativ sei. Vielmehr sei sie einfach überzeugt, dass manches, so wie es ist, in Ordnung sei. Sein «Nachbar Köbi» habe auch weder Trump noch Erdogan gewählt, findet Millius zwischen Jassrunde und Zäuerli heraus (ohne Diminutiv: ein Zauer).
Die Argumentation versickert da irgendwo, schliesslich sprach Renz explizit von der grossen Verantwortung der Dörfer, die aktuell in so vielen Ländern das Sagen haben. Dabei reicht es vollkommen, wenn Köbi an hiesigen Urnen keine Scheisse baut. Diesen Punkt greift Millius nicht auf. Es wäre auch etwas schwierig, damit zu polemisieren. Da die Dörfler dagegen freundlich winken würden, wenn sich am Wochenende die Städter «in einer endlosen Wagenkolonne Richtung Schwägalp» drehten, könne auch von Isolation keine Rede sein.
Im Unterschied zum Wahlinnerhödler Millius bin ich an genau dieser Strecke aufgewachsen und wage zumindest die Frage aufzuwerfen, zu wie vielen Teilen dieses «freundliche» Winken vor Allem auf identitärer Selbstdarstellung beruht. So unglaublich beliebt sind die nebelflüchtigen Touristen da oben auch wieder nicht. Ihr Kleingeld aber schon recht nützlich. Die Selbstironie, die mir als zwischenzeitlicher Stadtzürcher ohnehin notwendig ist, möge das Folgende verzeihen.
Postdadaistischer Horror
Die heile, idyllische Bergwelt hat etliche tiefe Risse. Das wissen alle, die jemals in einem Dorf gelebt haben. Und die von Renz aufgeworfenen politischen Fragen schleckt auch keine jodelnde Geiss hinweg.
Und: Wir Städter*innen haben angesichts der Probleme, die von Euch geschätzten Landeiern so regelmässig gemacht werden, auch gar keine Lust zum Zauren und Jauchzen – sondern zum Schreien. Die Lage ist zum Heulen. Das Mordor unserer Zeit liegt in Eurem grünen Auenland.
Ein Ort, wo einfache, aufrichtige und bodenständige (was soll das überhaupt heissen?) Leute wohnen, wo naturgejodelt und talergeschwungen wird, wo «Schafseckel» eine adäquate Begrüssung ist, «Chrüüzsiech» Bewunderung ausdrückt und eigenartige Schnalzlaute noblere Bestätigungen wie «Jawohl, da pflichte ich Ihnen bei» ersetzen, wo Männer noch Männer und Frauen noch Hausarbeiterinnen sind, alle Hosenträger tragen, wo Nation, Brauchtum, Tradition und andere Krankheiten hochgehalten werden und Latte Macchiato noch direkt aus der Kuh kommt. Statt Döner gibts hier Bebäflade, vermutlich mit Schlagrahm, weil auch steifer Rahm irgendwie bodenständig ist. Sowas braucht kein Schwein, Entschuldigung.
Ich schweige, also laberst du
Finden in der helvetischen Konföderation Abstimmungen statt, sind das in den letzten Jahren vermehrt solche, die uns Städter*innen sehr betreffen und das Land kaum (oder ging es bei der Minarettinitiative um Gonten oder Unterwasser?). Sie werden zu Ungunsten des städtischen Lebensklimas vom Land entschieden. Was will man dazu sagen? Nicht viel. Derartiges Verhalten gehört mit Schweigen beantwortet.
Dabei handelt es sich um ein tiefes, trauriges Schweigen. Vielleicht lernt ja das Land etwas, wenn man es bei solchen Dummheiten gar nicht erst zur Kenntnis nimmt. Doch ist dieses «Land» kein besonders dummes Kleinkind, sondern eine Masse (eine gut verstreute) grossteils erwachsener, mündiger und des Lesens mächtiger Personen, die sich als regelmässige popelige Mehrheit willentlich entscheidet, asoziale Urnengänge zum Unwohl aller zu beschliessen. Was um Himmelswillen will man dazu sagen.
Isolationismus krepiert im Rohr
Bevormundung wird es keine geben, schon gar nicht in einer Konföderation. Einen Wegzoll an der Stadtgrenze wiedereinzuführen, damit wenigstens an der Olma gespürt wird, was Isolationismus bedeutet, wäre eine lustige Idee, längerfristig aber unproduktiv. Auch wir Stadtbewohner*innen müssen uns über jemanden aufregen können. «Warum lassen wir die Landbevölkerung überhaupt mitentscheiden?» – eine verlockende Frage, aber keine besonders demokratische. Nur: Die xenophoben Urnengänge der Landbevölkerung haben auch nicht gerade von demokratischem Geist gesprochen.
Isolationismus hat immer Konsequenzen, auch für jene, die ihn herbeiwünschen. Das Schweigen der Städte ist eine davon, allerdings auch nicht wirklich rational. Es ist gefühlsgeleitet, beruht auf Kränkung und führt unweigerlich dazu, dass keiner den andern noch zu verstehen vermag. Kommunikativer Bullshit also. Es handelt sich dabei um eine wenig durchdachte Art einer «Sozialpädagogik der Städte» als Reaktion auf die Bestrafungsgelüste der Dörfer. Die gegenseitige Faszination und Liebe bleibt dabei auf der Strecke.
Nicht nur die Städte, auch die Dörfer haben Gefühle und die sind nicht minder bescheuert: Die Flachländer und Nebelköpfe seien arrogant, würden allesamt auf Büezerkosten an Universitäten rumhängen, da gleich noch eine politische Elite bilden und hätten ihre «Wurzeln» vergessen. Abgesehen davon, dass ich noch nie einen Menschen mit Wurzeln gesehen habe, ist das in etwa so schlüssig wie die Annahme, ein Milliardär stünde gegen das «Establishment» und sei für «das Volk» da.
Ironisch sind unweigerlich unsere anmassenden Definitionsversuche des «Anderen» und pathetisch sind sie noch dazu, schliesslich sind die Übergänge fliessend, ausserhalb von pathologisch interessanten Gefühlen wenig aussagekräftig und nur in künstlich-künstlerischen Idealbildern halbwegs eindeutig identifizierbar. Weil Identität, mit Verlaub, ein Trugbild ist, das einzig dazu da ist, um Fondue zu verkaufen.
Die unanständige Mehrheit
Die Definitionen überschneiden sich und alle haben Verwandtschaften und Freund*innen sowohl «hier» als auch «da». Man munkelt, dass es Leute gibt, die sich in der Stadt und auf dem Land gleichermassen zu Hause fühlen und solche gar, die «Heimat» für Humbug halten und beispielsweise ihr unbewegliches Leben irgendwo günstig auf dem Land als Reise definieren. Sex wiäs well.
Tun müssen wir einen Scheissdreck, zu allerletzt Liebe machen, nachdem die Einen in einer bösartigen Bestrafungsmoral und die Anderen in einer (mit dem dümmsten aller möglichen Worte) «gutmenschlichen» Ignoranz glänzen. Die volonté générale, um doch noch Klartext zu reden, ist ein demokratisches Ideal, das es so wohl weder beim Herisauer Gidio Hosenstoss noch beim Zürcher 1. Mai tatsächlich gibt. Einig sein müssen wir uns keineswegs, Lebensentwürfe unterscheiden sich schon im nächsten Umfeld radikal, weil es sonst unweigerlich langweilig würde. Ans Bein säächen müssen wir uns deshalb noch lange nicht.
Eine der raren Qualitäten des Tagi ist anscheinend, diese Fragen regelmässig zu thematisieren. Warum deren Bildredaktion alle diese Beiträge mit Appenzeller Trachten bebildern muss, ist uns aber ein Rätsel. Es gibt auch anderswo Käffer und Fasnachtsbekleidung.
In guter Erinnerung ist Jonas Lüschers Kritik der «unanständigen Mehrheit» im Tagi vom 1. August vor drei Jahren: Müsse er im Ausland die Schweiz erklären (huch, ich dachte das darf nur Köppel!), sei er gezwungen, von einem gespaltenen Land zu erzählen, in dem eben eine Mehrheit unanständig sei, unanständig wie etwa die Innerrhödler am 29. April 1990, als sie Schwurhand oben und Säbel an der Hüfte im Rahmen der Landsgemeinde den Frauen das Wahlrecht noch immer verweigerten (neunzehnfuckingneunzig!). Vöchelig schad. Der Wohlstand ist es, so Lüschers Fazit, der die Minarett- und die Ausschaffungsinitiative so unanständig macht, weil: «Schweizer zu sein, ist keine Leistung, es ist ein Zufall, der gnädige Zufall der reichen Geburt».
Des Faschisten innerer Anarchist
Anstand auf der anderen Seite ist eine bürgerliche Idee, hält die Philosophin Agnes Heller fest: um diesen von «guten Menschen» oder «Heiligen» zu unterscheiden, die anderen ohne Eigennutz helfen. Sie, die vom 20. Jahrhundert so ziemlich alle europäischen Hässlichkeiten in nächster Nähe erleben musste, spricht von Schuldgefühlen, weil sie befreundeten Menschen nicht helfen konnte, und bezeichnet sich daher bescheiden als «anständig».
Doch was hat es mit diesem so verbreiteten Wunsch nach Unanständigkeit auf sich, der Trump ins Amt hievte und in der Schweiz nur im leidenschaftlichen Anstand von Operation Libero’s Flavia Kleiner zwischenzeitlich seine Nemesis gefunden hatte? War das etwas anderes als eine ausserordentlich bürgerliche Inszenierung der Nationalheiligen Heidi als Behandlung dessen, was Andreas Pfister auf dem Tagi-Politblog das «Geissenpeter-Syndrom» nannte? Heidi hat nämlich Herz und versohlt dem Peter seinen Arsch, wenn dieser nicht zur Schule gehen will.
Es würde sich lohnen, die sicherlich gewagte These mit den Gedanken weiterzuspinnen, die der Sozialwissenschaftler und Knastpsychologe Götz Eisenberg in einem der anregendsten Texte, den man in letzter Zeit lesen konnte, geäussert hat. Er spricht da von dem im Inneren des Faschisten anwesenden Anarchisten «in Gestalt seiner verdrängten Begierden und unterdrückten Wünsche». An dieser Stelle kommt die tendenziell rebellische Unanständigkeit mit den stark normativen Bestrafungsgelüsten zusammen, ein widersprüchliches Charakteristikum dieser Voten.
Was daraus n i c h t gefolgert werden darf: Eine Verstümmelung der Debatte in der Art von «Landbewohnende sind Faschos». Dies wäre eine Verharmlosung des historischen Faschismus und mit wenig angewandter Vernunft als kreuzfalsch zu bezeichnen. Die andere mindestens gleich gefährliche Verharmlosung wäre, daraus zu schliessen, das es keine derartigen Tendenzen gäbe. Völkermord-verdächtige Unterlassungsverbrechen wie die Zustände im und ums Mittelmeer, die Isolation von Refugees in Lagern, widerwärtige Ausschaffungspraktiken und der vermeintlich banale grassierende Alltagsrassismus sind Symptome, die eine adjektivische Verwendung des F*-Wortes zwingend erfordern.
Was daraus gefolgert werden kann: es ist möglich, gleichzeitig mit rebellischer Geste eine eigentlich sinnvolle herrschaftskritische Haltung einzunehmen, d.h. Foucault paraphrasierend, «nicht dermassen regiert werden wollen», und doch einer Politik auf den Leim zu gehen, die ihren tendenziell faschistischen Kern nur wenig verschleiert. Man muss auf der Hut sein, denn das betrifft, analog zu Pfisters «Geissenpeter-Syndrom» Stadt und Land gleichermassen. Wir haben zu tun.
Eigene Probleme, und andere Probleme
So unangenehm das sein mag, wir müssen uns ernsthaft Gedanken machen, wie viel Faschistisches die Demokratien noch ertragen mögen. Das ist, um hierin deutlich zu sein, keine etwaige «Faschokeule», sondern die schwierigere politische Frage, wie wir in unserer Gegenwart mit Bestrafung umgehen wollen. Nur weil es spezifische singuläre Geschichtsereignisse gibt, heisst das nicht oder gerade nicht, dass wir vor schlechten Ideen gefeit wären.
Wenn man in den Städten nur «Drogendealer» und Asoziale sieht, wie das Millius in seiner Polemik zu tun geruht, stösst man die unzähligen da wohnenden Menschen vor den Kopf, die genauso hart arbeiten wie schaffige Leute auf dem Land. Die das nicht tun, tun was anderes.
Man darf ein Problem damit haben, dass Leute anders leben als auf dem idyllischen Lande, nur ist das ein höchstprivates Problem. Diese Idylle gibt es in Reinform nicht einmal in Grossmutters Erinnerung. Man schätzt Drogendealer*innen nicht besonders? So suche man keine auf. Die solche aufsuchen wollen, sind nämlich dankbar, wenn sie von selbstgerechten Reinheitsphantasien in Ruhe gelassen werden. Die Rutenbündel oder Fasces (symbolisch für: Einheit oder Kopf ab) helfen nicht zur Lösung solcher Probleme. Fragen wir doch jeweils einfach – nämlich diejenigen, die damit zu tun haben! Oder hat die schweizerische Landbevölkerung ein Drogen- oder Migrationsproblem, das wir dringend diskutieren sollten? No way.
Der so wichtige Föderalismus, der unser aller Mitspracherecht garantiert, darf nicht missbraucht werden gegen andere und damit gegen uns selbst. In unserem Interesse läge es, stillzuschweigen, wenn es uns nicht betrifft. Wenn wir über Refugees diskutieren, tun wir das bissoguet mit Anstand und Respekt, wenn wir schon nicht allesamt «gute Menschen» oder «Heilige» sein wollen oder können. Und, liebe Landbevölkerung: wenn wir in absehbarer Zeit das Gras legalisieren, tun wir das auch nur für Euer verdammtes Portemonnaie. Ausgehend von diesem Grundanstand können wir uns vielleicht sogar richtig lieb haben.
Darum und bis dahin sei die Debatte eröffnet.