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Lumpenvögel und das fliehende Subcommune

27. April 2016, 5507 Zeichen

«O.K. Wir sind Lumpen. Vorwärts. Lumpenproletariat sind […] die sogenannten ‹kriminellen Elemente›, die von ihrem gewitzten Verstand leben […]; die Gewehre in die Gesichter von Geschäftsleuten stecken und sagen ‹Hände hoch› oder ‹gib’s auf›! Diejenigen, die einen Job noch nicht einmal wollen, die die Arbeit hassen und […] eher einem Schwein in die Fresse schlagen und ihn dann ausrauben als die Zeituhr des gleichen Schweines zu stechen und für ihn zu arbeiten […]. Kurzgesagt alle, die man um ihr rechtsmäßiges soziales Erbe beraubt hat».
Diese Worte stammen aus der Klassenanalyse des Sprechers der Black Panther Party Eldridge Cleaver, welcher so 1970 mit einer beachtlichen Nonchalance Anschluss an verschiedene theoretische topoi koinoi (mit Paolo Virno: Gemeinplätze als Skelett einer jeden Diskussion) ermöglicht. Schließt er einerseits an den marxistischen proletarischen Internationalismus an, bricht er mit diesem im engeren Sinn, indem er eine anarchistische Sichtweise auf die Revolution bevorzugt. Übernimmt er von Frantz Fanon dessen vorgeschlagene affirmierende Subjektivierung als Lumpenproletariat, kommen postkoloniale Dimensionen hinzu, welche auf diese Weise nicht mehr als Nebenwidersprüche zur Seite geschoben werden können. Läuft man tagtäglich in Gefahr, von rassistischen Bullen oder paramilitärischen Faschisten ermordet zu werden, so wird dies von den Panthers zwar auch als Symptom der kapitalistischen Produktionsweise gelesen, jedoch, im Unterschied zu ignoranteren Marxismen, pragmatischerweise nicht mehr als zweitrangig betrachtet.
Auf der anderen Seite des atlantischen Tümpels machten sich zeitgleich im Paris der Nach-68er einige Theoretiker*innen auf, z.B. Gefängnisdiskurse kritischer zu führen, als das in linken Kreisen bis anhin üblich war. So untersucht beispielsweise Michel Foucault die Strafgesellschaft, statt den Charakter von Delinquenten moralisch zu interpretieren. Wird er vom damaligen Tagi-Korrespondenten Niklaus Meienberg treudoof gefragt, ob vorbildliche Knäste für ihn denkbar wären, verweist er auf Marginalisierungsmechanismen, welche mit einigen brennenden Anstalten höchstens verschoben werden könnten, kaum aber verschwinden würden. Deshalb braucht es Kritik, welche Vorgänge der tagtäglichen Marginalisierung in der Gesellschaft überhaupt erklären kann. «Il y a de la plèbe dans les corps et dans les âmes», antwortet derselbe auf eine Frage Jacques Rancières, um zu verdeutlichen, dass es keine soziologische Wirklichkeit der Plebs gibt, wohl aber eine Art primäre Fliehkraft im Machtgefüge. Überhaupt durchziehen sowohl der topos der Flucht, wie auch das Lumpenproletariat betreffende Probleme politischer Theorie das Werk Foucaults, ohne allerdings von der Rezeption bisher angemessen wahrgenommen zu werden.
Große Ausnahme ist die postoperaistische Theorie, welche entscheidend von den Konzeptionen und Analysen Foucaults profitiert. So gebrauchen Michael Hardt und Antonio Negri das spinozistische Konzept der Multitude zwar als Klassenbegriff, verweisen aber deutlich auf die konstituierende Macht der Armen, anstatt diese klassisch marxistisch als «Lumpenproletariat» zu dämonisieren. Wäre es durchaus möglich, das Plebejische postanarchistisch ohne Klassentheorie zu denken, so macht es wenig Sinn, die kommunistische Diskussion um die Multitude ohne auf etwas Plebejisches zu verweisen anzugehen. Deutlich wird dies in der Exoduskonzeption der politischen Theoretikerin Isabell Lorey, welche die topoi der Flucht von Gilles Deleuze, des Exodus von Virno mit Foucaults Macht-, Herrschafts- und Widerstandsbegriffen zusammenbringt. Es gibt etwas Plebejisches in der und durch die Multitude hindurch.
Diese Linien kommen jedoch schon früher an anderer Stelle zusammen: so arbeitete Foucault mit Jean Genet an der Herausgabe einer Verteidigungsschrift für den Black Panther George Jackson, der als Stichwortgeber für die deleuzesche Fluchtkonzeption fungiert. Jackson beschreibt in seinen Gefängnisbriefen knapp zehn Tage vor der Erschießung seines 17 jährigen Bruders Jonathan, wie er als «vogelfreier, gejagter Fremdling» seine Lage zwar als bedrohlich wahrnimmt, sich jedoch darum niemals «blöde vorgekommen» ist. Würde er fliehen, so niemals ohne dabei Stock (in der frz. Übersetzung allgemeiner: Waffe) und Verteidigungsposition zu suchen. Inmitten der Gesellschaft marginalisiert, in diversen Facetten typisch lumpenproletarisch, ist es das Plebejische, das Jackson selbst nach einem ungerechtfertigten guten Jahrzehnt im Verwahrungs-Knast nicht verliert. Die Liebe des Fernsten Zarathustras liegt dem näher als Korruption und Selbsterhalt.
Wiederfinden kann man all diese Motive im wunderbaren Text von Stefano Harney und Fred Moten, die mit dem Konzept der Undercommons sowohl das Subproletarische aufgreifen, als auch mit dem Unberechenbaren, Ambivalenten und Ungewöhnlichen spielen. Es gibt etwas unter der marxschen Basis und unter dem Gemeinsamen, das diese durchaus determiniert. Beherrscht von ideologischen Staatsapparaten und dem grundlegenden Ökonomischen, ist beides doch von diesem abhängig, dem Subkommunen, stets Flüchtigen, selbst noch bei äußerster Gewaltsamkeit Dissidierenden. Dies ist aber nicht die sartresche Freiheit, sondern; eine Kraft, die plebejisch genannt werden könnte; ein Gemeinplatz, der un(ter)gewöhnlich ist; oder ein Gefühl, das mangels anderer Worte gemeinhin immer wieder als «Liebe» besungen wird.

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