Fuck you Žižek!
Der Professor für Iranian-Studies Hamid Dabashi zieht in seiner provokativen Einleitung zu «Can Non-Europeans Think?» eine scharfe Linie zwischen europäische und postkoloniale Philosoph_innen. Eine Übersetzung von Madame Psychosis.
«Fuck you, Walter Mignolo!»1 Mit diesen hochtrabenden Worten und der passend dazugehörigen Geste, beginnt der europäische Philosoph Slavoj Žižek seine Antwort zum Teil, den Walter Mignolo in Konversation mit meinem Essay «Can Non-Europeans Think?» geschrieben hat. Žižek ist ziemlich eloquent und schweift wie immer aus: «Okay, fuck you, wer sind diese verdammt viel interessanteren Intellektuellen…? Sagen wir mal, ich war nicht übermäßig beeindruckt».
Man fragt sich vielleicht, was der Grund für solch‘ einen Ausbruch eines angesehen europäischen Philosophen ist: warum eine solch übertriebene Reaktion? Was hat Walter Mignolo gesagt um solche Anwürfe eines führenden europäischen Denkers zu verdienen?
Eine einfache Frage
Im Januar 2013 habe ich einen Essay auf Al Jazeera Online veröffentlicht mit dem spielerischen Titel «Can Non-Europeans Think?». Dieser wurde schnell einer der populärsten Texte, den ich in meiner akademischen Karriere geschrieben habe. Er ging viral im Internet, in dem Ausmaß, wie ein polemischer Essay in philosophischem Denken viral gehen kann. Er erhielt mehr Aufrufe als alles andere, was ich je für diese Webseite geschrieben habe. Es hat einen Nerv getroffen und die Leute begannen zu lesen und reflektieren, weit über meine eigene begrenze Reichweite oder Erwartung beim Schreiben des Textes. Dies ist nun der Titel meines Buches, welches auf die Art des Denkens zielt, die ich als außerhalb der Grenzen des Zustands «Postkolonialität» bezeichnet habe. Das Buch entstand tatsächlich als eine Unabhängigkeits-Deklaration, nicht nur vom Zustand der Postkolonialität, aber von der begrenzten und heute erschöpften Wissenschaft, die sie in der Geschichte verursacht hat. Hier bemerkt man vielleicht ein vorsichtiges Suchen nach Wegen vorwärts, für eine Bestimmung und Dringlichkeit davon, über die Kolonialität, über Postkoloniät hinaus zu denken und dadurch über die explizite und implizite Präsenz europäischer Gesprächspartner_innen, die über unsere Schultern schauen, wenn wir schreiben.
Und genau da war die Reibstelle! Kurz nach der Publikation meines Essays, antwortete Santiago Zabala, ein Research-Professor für Philosophie an der Universität in Barcelona, darauf. Er schrieb dies im Glauben, ich hätte es als Antwort auf einen Text von ihm geschrieben und er fühlte sich verpflichtet, darauf zu reagieren. Diese Antwort auf meinen Essay, erschien mir, obwohl sehr willkommen, etwas merkwürdig, weil ich nicht eine Antwort auf seine Arbeit verfasst, sondern vielmehr etwas aus seinen früheren Texten als Haken genutzt habe, um mein Argument daran anzuhängen. Es schien, als habe er sich von meinem Essay angegriffen gefühlt, und als habe er gedacht, ich würde ihm (und anderen europäischen Philosoph_innen) Eurozentrismus unterstellen, und nahm zusätzlich den Fakt, dass ich den bedeutenden italienischen marxistischen Philosophen Antonio Gramsci angemerkt habe, als Annahme, ich sei komplett neben der Rolle, ihm etwas vorzuwerfen, von dem ich selbst befallen war. Es war eine sehr groteske Antwort, auf eine Beschuldigung, die ich nie geäußert habe. Im Allgemeinen finde ich den Eurozentrismus-Vorwurf quälend langweilig, an solch aufgeblasenen Argumenten habe ich kein Interesse und betrachte die ganze Ausdrucksweise von Zabalas Text als eher jugendlich, was ich wie auch Schulhof-Piss-Contest im Iran vor Jahrzehnten zurückgelassen habe. Natürlich sind Europäer_innen eurozentrisch, wie auch unser Molla Nasredding bekannterweise (im Spaß) dachte, dass dort, wo er die Zügel seines Maultiers befestigte, das Zentrum des Universums sei – und warum sollten sie dies nicht glauben, die Europäer_innen oder Molla Nasreddin? Ich habe mich in dieser Angelegenheit nicht an Zabala gerichtet, oder irgend eine andere europäische Philosoph_in. Er aber dachte, dass ich das hätte.
Schnell kam der Kamerad von Zabala, Michael Marder, um sich dem europäischen Bruder anzuschließen und schrieb einen anderen Text gegen mich auf Al Jazeera, in welchem er meinen Text auch als an Zabala gerichtet las und ihn als etwas Komisches betrachtete. Marders Einwand war, dass ich die Tatsache ignoriert habe, dass Zabalas zititerte Philosoph_innen alle «gegenhegemonial» waren und somit also ziemlich radikal subversiv und demzufolge zu Ehren kamen, auf meiner Seite der falschen Trennung zu stehen. Nochmal, er kann den Text in jeglicher Art lesen, wie es im gefällt, einschließlich dieser seltsamen, blöden Art, aber was mich höchst amüsierte, war, dass die jungen europäischen Philosophen sich so selbstbewusst als «europäische Philosophen» wahrnahmen, dass sie sich verpflichtet fühlten sich in Gang-Manier zusammenzutun und sich gegen den farbigen (colored) Jungen zur Wehr zu setzen, der es gewagt hat, auf ihr Territorium zu pissen. Meine verstorbene Mutter bemerkte jeweils, dass, sobald du den Stock aufnimmst, die Katze, die etwas gestohlen hat, davon läuft. Du hast vielleicht nicht die Absicht jemanden zu schlagen, die Katze weiß aber, dass sie ein Dieb ist. Jedenfalls habe ich mich nicht an Zabala oder Marder gerichtet. Ich habe mich vielmehr an überhaupt keine europäische Philosoph_in gerichtet. Aber immer, wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert, denken sie, dass es mit ihnen zu tun hat. Tut es nicht. Und genau das ist der springende Punkt: Leute wie ich sind nicht mehr daran interessiert, was auch immer es ist, was sie glauben das es bedeutet, «hegemonial» oder «gegenhegemonial» in Europa oder für Europäier_innen zu sein. Wir weiden schon auf viel grüneren Wiesen. Bisher waren diese verspäteten Verteidiger des toten Gesprächspartners, den sie «den Westen» nennen, nicht auf der Geschwindigkeit auf der wir waren. Wir (damit meine ich wir farbigen [colored] Jungen und Mädchen von deren früheren Kolonien) vermaßen ein neue Topografie der Welt (unsere Welt, die ganze planetarische Aufstellung des Globus, den wir nun als unseren beanspruchen) in unserem Denken und Forschen; während sie ihre Ignoranz des Arbeit-Körpers in einen kritischen Kraftpunkt für ihre philosophischen Argumente drehten – so wie es ihre Vorfahren mit der Arbeit unserer Eltern taten, missbraucht und weggeworfen. Sie wussten nicht, dass wir ihrem Žižek sagten, er soll sich mit sich selbst vergnügen, lange bevor er unserem Mignolo «Fuck you» sagte.
An diesem Punkt schrieb Walter Mignolo sein gelehrsames Stück als direkte Antwort auf meinen Essay, in welchem er meine Frage als Antwort zurückgab. Mignolos Essay war der erste, den ich für voll nahm, weil er ernsthaft damit begann, sich auf die Frage einzulassen, welche ich gestellt hatte. Mein Essay war Anstoß für viele andere Antworten, unter ihnen – und vielleicht das ergreifendste bis jetzt, was die Substanz meiner Argumente betrifft – der wunderbare Text von Aditya Nigam, «End of Postcolonialism and the Challenge ‚Non-European‘ Thought.» Der Vorteil von Nigams Text war, dass er sehr gut über mein Werk im allgemeinen informiert war und sich bereits in einem gewissen Grad mit der Argumentation meiner Arbeit auseinandergesetzt hat. Nigams Text hat den kritischen Punkt für mich sehr klar gemacht: Leute wie Zabala und Marder haben wirklich keine Ahnung von meiner oder irgendjemand anderes Arbeit über ihre europäische Nase hinaus, da sie weder Interesse noch Grund haben, dies zu ändern. Mignolo, Nigam und ich sind Teil einer Generation von postkolonialen Denker_innen, die mit dem Zwang aufgewachsen sind, die Sprache und Kultur unserer kolonialen Gesprächspartner zu lernen. Diese Gesprächspartner hatten nie einen Grund zum Austausch. Sie sind in ihrer Annahme von Universalität provinziell geworden. Wir sind unter dem kolonialen Zwang universal geworden, der das Ziel hatte, uns zu provinzialisieren.
Es war eine direkte Antwort auf Walter Mignolos Essay, welche Žižek mit dem superlativen Anfang gestartet hat und dann fortfuhr, den Fall klar zu machen, warum er nichts, was Nicht-Europäer_innen sagen, erst nehmen kann. Ich werde es Mignolo selbst überlassen für sich einzustehen, er ist mehr als fähig dies zu tun, wenn er mit Žižek beschäftigt ist. Meine Aufgabe hier ist nicht weiter, meine Argumente in meinem Essay Can Non-Europeans Think? zu verteidigen oder zu festigen. Er steht, was auch immer er wert ist, auf seinen eigenen zwei Füssen. Stattdessen bin ich viel mehr interessiert in die seltsame Frage, ob europäische Philosoph_innen einen Text wirklich lesen können oder nicht, um davon zu lernen, – statt ihn anzugleichen an das, was sie bereits wissen. Dies ist der Kontext, worin ich gerne darüber nachdenken würde, was es ist, das einen europäischen Denker dazu veranlasst, solche Kraftausdrücke zu gebrauchen, wenn er mit etwas konfrontiert wird, was ein Mignolo, ein Nigam oder ein Dabashi sagen könnte.
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Warum sollten Europäer_innen nicht fähig sein zu lesen, obwohl wir in der Sprache schreiben, die sie verstehen? Sie können nicht lesen, weil sie (als «Europäer_innen», gefangen in der Falle einer erschöpften, aber selbst-nostalgischen Metapher) das, was sie lesen, zurück angleichen in diese Falle, in das was sie bereits wissen – und somit unfähig sind, dies vorwärts, in etwas was sie noch nicht wissen, zu projizieren und noch nicht fähig zu lernen sind. Historische Bedingungen sind das Fundament von Ideen. Die ganze Welt, besonders die arabische und muslimische Welt, ist im Wandel; die Änderungen sind die conditio sine qua non von neuen Ideen, die noch zu artikulieren sind – gerade in der gleichen Weise, wie der Mythos von «Europa» oder dem «Westen» geboren ist und begonnen hat, Ideen zu generieren. Mein zentrales Argument der letzten Jahrzehnte war, dass der Zustand der Kolonialität einen Modus von Wissensproduktion über die koloniale Welt versacht hat – von Asien bis Afrika zu Lateinamerika – das wir heute kennen und in dem Moment als «postkolonial» untersuchen. In meinen Büchern über die arabische Revolution und die Grüne Revolution in Iran habe ich die Ansicht vertreten, dass, was diese revolutionären Aufstände beweisen, die Modi von Wissens-Produktion in den postkolonialen Einteilungen – militanter Islamismus, antikolonialer Nationalismus und Trikont-Sozialismus – sich faktisch selbst entleerten. Europäische Denker_innen wie Žižek und Zabala, so wichtig und einflussreich sie auch in ihren eigenen, unmittelbaren Kreisen sein mögen, sind außerhalb der Reichweite dieser Realitäten und dies bis zum dem Grad, dass sie nicht zu Begriffen gelangen können mit ihren entfaltenden begrifflichen Besonderheiten in dem Sinne ihrer unmittelbaren Idiomatizitäten. Für sie ist «Philosophie» mentale Gymnastik, ausgeführt mit den landläufigen Eigenheiten von europäischer Philosophie in seiner postmodernen oder poststrukturalistischen Einordnung – aufregend und produktiv in dem Grade, wie sie es gerade sein kann. Aber wenn und bis diese definierenden Momente strukturell verbunden sind, thematisch bewegt, konzeptuell kompromittiert und folglich epistemisch gebrochen werden, werden sie sehr wenig oder gar nichts über die entfaltende Welt, die wir vor uns haben, zu sagen haben.
Žižek beansprucht Fanon ganz für sich alleine, so wie er Mignolo abweist:
«Jetzt, lass uns zu Mignolo zurückkehren, was Mignolo vorschlägt ist also eine Version von baudrillardschem Kampfgeschrei… «Vergiss Foucault»… Vergiss Europa, wir haben Besseres zu tun, als uns mit der europäischen Philosophie herumzuschlagen, bessere Dinge als die ewige Dekonstruktion. Er schließt explizit die Dekonstruktion mit ein. Das ist endlos narzisstische Selbst-Untersuchung, [und] wir sollten einfach schnell austreten. Die Ironie hier ist, dass dieses Kampfgeschrei nicht an Fanon selbst festhält, welcher sich intensiv [mit europäischer Philosophie] beschäftigt hat und stolz darauf war. Die erste Obszönität scheint mir, wie er es sich erlaubt, Fanon zu zitieren! Fanon ist mein Held, deshalb verteidige ich ihn gegen weiche Typen wie Homi Bhabha, der lange Texte schrieb um Fanon zu neutralisieren, zu normalisieren. Nein, er hat es nicht wirklich so gemeint, mit dem Töten und der Gewalt; er meinte irgendeine erhabene Geste, wo es kein Blut gibt und niemand wirklich verletzt wird und so weiter. Schauen wir der Tasache ins Gesicht, Fanon hat sich gründlich mit Hegel, der Psychoanalyse, Sartre und sogar Lacan beschäftigt. Meine dritte Reaktion wäre: Wenn ich Zeilen lese wie die von Mignolo, greife ich nicht zur Pistole, sondern zu Fanon».
Žižek kann seinen Fanon ganz für sich alleine haben. Es hat genug Fanon übrig für die anderen. Aber Fanon selbst? Wirklich? Was soll das heißen? Dass wir dunklen Leute unseren eigenen Fanon hatten, wir uns nun besser hinsetzen und ruhig sein sollen? Fanon war entsetzlich falsch in seinem Essay «Unveiling Algeria»2 und total geblendet von der Natur und der Funktion der Verschleierung in muslimischer Umwelt. Nun, also was? Wir Muslime sollten besser ruhig sein und glücklich, dass Herr Žižek diesen Fanon gelesen hat. Ich bin einverstanden mit Žižeks Kritik gegenüber Bhabha, dessen unbrauchbaren, bourgeoisen Postmodernismus ich nicht ausstehen kann. Aber warum spielt sich Professor Žižek auf wie ein unbedarfter Doktorand, der diese Namen herauswürgt? Was wäre also, wenn Fanon Hegel gelesen und sich mit ihm beschäftigt hat? Die ganze Welt scheint mit dem Namen Fanon für Žižek besetzt, während wir kolonisierten Leute unser Wort gehabt haben und wir jetzt besser schweigen – oder, wie er es so eloquent ausdrückt, «Fuck off!».
Wie auch immer, der Punkt ist nicht, einen exklusiven Anspruch auf Fanon zu haben oder ihn zu fetischisieren (genausowenig bei anderen nicht europäischen Denker_innen), ihn als gefrorenen Talisman für Europäer_innen zu zitieren, als Beweis dafür, dass sie keine philosophischen Rassisten sind. Der Punkt ist nicht, den Mythos «Westen» als Mass der Wahrheit aufzulösen oder zu überwinden. Žižek fordert:3
«Ich bin ein Mensch und was ich nochmals durchleben muss ist die ganze Geschichte der Welt, ich bin nicht nur verantwortlich für die Sklaverei in Santa Domingo –sondern auch jedesmal, wenn Menschen zum Sieg der Würde des Geistes beigetragen haben, jedes Mal, wenn ein Mensch «Nein» gesagt hat, die anderen nicht zu unterjochen, ich habe Solidarität gespürt für dieses Handeln. Es ist keineswegs so, dass meine grundsätzliche Berufung aus der Vergangenheit von farbigen Menschen (peoples of color) gezeichnet werden muss. Keineswegs muss ich mich selbst dem Wiederbeleben von schwarzer Zilivisation widmen, die ungerechterweise ignoriert wurde. Ich werde mich selbst nicht zum Menschen jeglicher Geschichte machen. Meine schwarze Haut ist kein Behälter für spezifische Werte. Habe ich nicht Besseres zu tun auf dieser Erde, als die Schwarzen des 17. Jahrhunderts zu rächen?».
Die ist alles schön und gut – für Žižek. Er kann alles behaupten, was er will. Alle Macht für ihn. Aber der Punkt ist die Singularität der Welt, seiner Welt: er behauptet, dass er als Europäer nicht nur für Sklaverei verantwortlich sei, sondern auch für den Kampf gegen Ungerechtigkeit. Da hat er absolut recht. Aber das hat der «schwarze Mensch» genauso, den er eben lebend vergraben und in das 17. Jahrhundert verbannt hat. Er macht prophetisch geltend, dass er «ein Mensch» ist. Man hofft, dass er dies nicht nur anatomisch meint. Aber er ist nicht der einzige Mensch, weder als Körper noch als Archetyp. Der «schwarze Mensch» wie er es auslegt, ist also ein Mensch, ein anderer Mensch, in einem gepeitschten Körper und in verleugneten Archetypen. Die schwarze und braune Person – männlich oder weiblich – hat auch eine Welt, eine gegenwärtige Welt, die Welt, die Žižek besetzt hält. Žižek hat recht, dass er einen totalen Anspruch an diese Welt hat, die er besetzt und über welche er und seine philosophischen Vorfahren den Vorsitz hatten. Aber was ist mit dem einer Nicht-Europäerin – «Nicht-Europäerin», gemacht nämlich von «dem Europäer»? Kann sie auch einen Anspruch an die Welt haben und in einer philosophischen oder künstlerischen oder revolutionären Bewegung das Koloniale und das Postkoloniale für sich selbst beanspruchen, das europäische und das nicht-europäische Erbe und dadurch die Welt übersteigen, die Žižek exklusive für sich beansprucht, und sich in einer anderen Welt platzieren, eine andere Weltlichkeit ausserhalb Žižeks europäischer Imagination? Gewiss kann sie das, ohne auf Žižeks Erlaubnis, Eingeständnis oder sogar Anerkennung zu warten. Die Welt, die wir bewohnen, Planet Erde, hat viele imaginativen Geografien; die von Žižek und all seinen europäischen Kollegen ist nur eine dieser Geografien. Der Punkt ist, dass sie vollkommen blind sind für die Möglichkeit dieser alternativen Geografien – sowohl historisch als auch gegenwärtig.
Andere Menschen sind auch berechtigt, die Welt außerhalb ihrer Imagination «wiederzueinfangen» – wie natürlich Žižek genauso. Žižek liegt richtig, dass es keineswegs so ist, «dass [s]eine grundsätzliche Berufung aus der Vergangenheit von farbigen Menschen (people of color) gezeichnet werden muss». Aber genau diese «farbigen Leute» (people of color) (wie er sie nach seinem Vorrecht kategorisiert) haben nicht nur eine Vergangenheit; sie haben auch eine Gegenwart und eine Zukunft. Žižek ist blind für diese Gegenwart, außer er gleicht sie seiner Gegenwart an; und ist gleichgültig gegenüber der Zukunft, außer wenn er sie (singulär) definieren kann. Er liegt bedingungslos richtig, dass er sich keineswegs «selbst dem Wiederbeleben von schwarzer Zivilisation widmen [muss], die ungerechterweise ignoriert wurde.» Aber eine «schwarze Zivilisation», die ungerechterweise ignoriert wird, ist von anderen Menschen bevölkert, von anderen denkenden Menschen, von tretenden Menschen, Menschen, die reden und zurück sprechen und an Žižek vorbeireden. Er ist absolut berechtigt zu sagen: «Ich werde mich selbst nicht zum Menschen jeglicher Geschichte machen» – und er sollte dies auch nicht tun, wie es niemand sollte. Aber die farbigen Leute (people of color), die er einfach in ihrer Vergangenheit lebend vergraben hat, leben und atmen auch in der Gegenwart, gegenüber welcher er glückselig ignorant zu sein scheint. Natürlich zieht er mir an meinem farbigen Bart, wenn er sagt, «[m]eine schwarze Haut ist kein Behälter für spezifische Werte.» Aber meine ist es und ich bin ein lebendes Gefäß nicht nur für «Werte», sondern für Universen, Emotionen, Worte, Gefühle, Rebellionen, von welcher er und alle seine Horatios nie auch nur geträumt haben in ihrer Philosophie.
Žižek und seine Philosophen-Kumpanen bemerken diese Geografien nicht, weil sie unter dem Skript keine andere Karte lesen können als das koloniale Skript und die koloniale Karte, mit welcher die Europäer_innen die Welt gelesen haben und navigierten; umgekehrt können sie kein anderes Skript oder andere Karte lesen, weil sie blind sind gegenüber alternativen Geografien, mit welcher der Widerstand zum Kolonialismus geschrieben und navigiert hat. Diese Begebenheit verschlimmert sich jedes Mal, wenn Menschen auf der Welt sich erheben, um ihre Geografie als den Ground Zero eines welthistorischen Ereignisses geltend zu machen. Heute versuchen Žižek und seine Anhänger_innen die Welt so zu lesen, wie sie sie bereits kennen. Es gibt einen neuen Zustand außerhalb der Postkolonialität, die diese Europäer_innen nicht lesen können, so fest sie auch versuchen dies an die Verfasstheit der Kolonialität anzugleichen. Die Aufgabe ist nicht die bloße Kritik des Neo-Orientalismus, welcher immer auch an unmittelbare und kurzsichtige politische Interessen gebunden ist, sondern «Europa» als eine Idee zu überwinden und es sich verhalten lassen wie eine unter vielen anderen erschöpften Metaphern, weder potenter, konstitutioneller oder glaubwürdiger oder weniger. Europa war «die Erfindung der dritten Welt», wie Fanon bemerkte – in materiellem und normativen Sinn des Begriffs. Ich habe schon dargelegt, dass wir einen Wechsel des Gesprächspartners, mit welchem wir die Begriffe unsere auftauchenden Welten besprechen, brauchen. Wir sollten uns nicht mehr länger an einen toten Gesprächspartner richten. Europa ist tot. Lang leben die Europäer_innen. Der Islam, den sie in ihrem Orientalismus erfanden, ist tot. Lang leben die Muslime. Der Orient, den sie erfanden, die dritte Welt, die sie erschufen um sie zu regieren und zu verunglimpfen, sind verschwunden. Wenn nur jene, die sich selbst immer noch als Orientalen sehen, anfangen würden, ihre eigenen Gehirne auch zu dekolonialisieren.
Junge europäische Philosoph_innen wie Zabala oder Marder, die denken, dass ihnen als Europäer_innen die Welt der Ideen gehört, täuschen die Autorität ihrer kolonialen Vorfahren vor, als ob alles, was irgendjemand irgendwo auf der Welt sagt, von ihnen handeln würde. Weltweit hat eine neue Geschichte begonnen – von der Grünen Revolution im Iran bis zum arabischen Frühling, zu den Indignados in Europa, zu den Occupy Wall Street in den USA, zu den massiven Protesten in Brasilien. Diese Aufstände werden ihre eigenen Wissens-Regime generieren, nicht trotz den gegen sie abgefeuerten reaktionären und konterrevolutionären Kräften, sondern wegen ihnen. Die Anthropologie dieser Revolutionen ist die erste Disziplin, die in die Nichtigkeit torpediert wurde. Es ist die eigentliche Idee von «Europa», die heute am verdächtigsten und entbehrlichsten ist. Europäer_innen als Menschen würden auch wieder in die Geschichte eintreten, wenn junge und alte europäische Philosoph_innen sie loslassen würden, zu gehen und zu sein sowie von ihren Worten lernen würden. Von der Moderne bis zur Postmoderne, von Strukturalismus zum Poststrukturalismus, von Konstruktivismus zum Dekonstruktionismus, die europäischen Philosoph_innen jagen ihre eigenen Schwänze; und was «Postkolonialismus» genannt wurde, war das Produkt einer europäischen kolonialen Vorstellung, die Verwüstung auf dieser Welt anrichtete und dann endlich auf Grund lief.
Wir sind keine postkolonialen Geschöpfe mehr.
Die Situation der Kolonialität, die uns intellektuell zur Welt gebracht hat – von Césaire über Fanon zu Said – hat seinen Lauf genommen. Diese Wissenschaft produziert kein bedeutungsvolles Wissen mehr. Wir sind frei, aber nicht ziellos; befreit, aber nicht unnütz. Dieses «Wir» ist kein «wir Völker des globalen Südens» mehr, für welches einige von uns in den globalen Norden migriert sind, um dort ihrem Kapital nachzujagen und nach Jobs zu suchen, während ihr Kapital transnational geworden ist und nun nach unserer billigen Arbeit im globalen Süden greift. Also, dieses «Wir» ist nicht mehr farbkodiert oder kontinental, und es beinhaltet alle Entrechteten von der globalen Operation des Kapitals, ob im Norden oder im Süden des Planeten Erde, oder tief im Cyber-Space, oder durch das All gleitend, und diese reichen Privilegierten durch dieselbe Operation. In seiner ursprünglichen Modernität war das globalisierte Kapital mystisch «europäisch». Das ist es nicht mehr. Es wurde de-europäisiert, befreit von den übersteigerten Fetischen. Reiche arabisch, indische, russische, chinesische, lateinamerikanische oder afrikanische Unternehmer_innen, Mafia-Staaten, «Deep States», «Garrison State», israelische Warlords und Mörder-Söldner der Isis sind Teil und Parzelle einer Welt-Realität, die sich für immer von dem Mythos «Westen» gelöst hat.
Orientalismus dann und jetzt
Wie genau sind wir über unsere Vorfahren hinausgegangen, kolonial und postkolonial, modern und postmodern? Wo genau ist das, wo wir stehen und denken und auf welchem geebneten Boden ist es, wo Mignolo, Nigam und ich Žižek, Zabala und Marder freundschaftlich einladen können, ihren Schutzwall fallen zu lassen und sich zu uns zu gesellen und uns gemeinsam zu denken und zu spielen?
In einem Text, den ich für Al Jazeera im Juli 2012 geschrieben habe, machte ich den New York Times-Kolumnisten Nicholas Kristof anlässlich einer Serie von klischeedurchzogenen Texten zum Thema, die er über den Iran geschrieben, nach einem kurzen Besuch. Kurz danach erschien ein Artikel in der Jerusalem Post, der mir unterstellte, den Begriff «Orientalismus» missbraucht zu haben und Mr. Kristof zu schikanieren. In diesem Text beteuert der Autor Seth J. Franzmann, dass «der Begriff ‚Orientalismus‘ oder genauer, jemanden als ‚Orientalisten‘ zu beschuldigen, […] aus dem Diskurs herausgerissen werden» sollte – und er fügt hinzu, dass der Begriff «in seiner Anwendung unsinnig» sei. Er glaubt daran, dass wir mit dem Kritisieren von orientalistischen Klischees eigentlich die Welt verblenden: «Dies ist ein Versuch die Welt ignorant zu machen, damit nur iranische Gelehrte den Anderen über den Iran erzählen können, und nur die chinesische kommunistische Partei China offiziell gegen aussen erklären kann. Wir sollen uns auf die Islamisten in Mali einlassen um uns erklären zu lassen, warum sie die ‚falschen Idole‘ in den Sufi-Gräbern von Timbuktu zerstören» – dadurch setzt er wirkungsvoll und auf nicht subtile Weise den «iranischen Gelehrten» mit den chinesischen Kommunisten und den islamistischen Terroristen in Mali gleich. (Klingelt da etwas, bei diesem Vergleich, bezüglich eines gewissen Massenmörders in Norwegen?)
Man kann natürlich eine gewisse vorübergehende Freude empfinden, wenn man es auf die zionistische Blacklist schafft, so wie ich es lange bevor diese Jerusalem Post Figur meinen Namen wegen dem Buch über die «101 Most Dangerous Academics in America» von seinem Seelenverwandten David Horowitz kannte. Aber was diesen bestimmten «iranischen Gelehrten» angeht (jetzt wo der Jerusalem Post Kolumnist mich mit einem Tastendruck meiner US-amerikanischen Staatsbürgerschaft völlig entledigte – weil, offensichtlicherweise ein «Hamid Dabashi» kein Amerikaner sein kann, während ein Setz J. Frantzman zur selben Zeit beides sein kann, «amerikanischer» Bürger und «israelischer» Siedler Kolonist – eine rassistische Annahme, die natürlich nicht «orientalistisch» ist) im gleichen Text, in welchem ich Nicholas Kristof kritisierte, rühmte ich auch den New York Times Kollege Roger Cohens und dessen Berichte vom Iran. Ich bin also ziemlich offensichtlich nicht im Geschäft um irgendjemand zum Schweigen zu bringen, auch nicht Nicht-Iraner, wenn sie irgendetwas (heikles oder dümmliches) über den Iran oder irgendeinen anderen Ort sagen.
Nun, abgesehen von seinem angeberischen Ton und der fehlerhaften Logik, hat Seth J. Frantzmans Text wirklich einen legitimen Punkt, nämlich den weit verbreiteten Missbrauch des Begriffs «Orientalismus» in journalistischen Texten – wobei ironischerweise sein Text perfekt in die Domäne dieser dilettantischen Missbräuche passt.
Soviel zu Edward Saids Trauer an seinem Todestag. Sein Buch und sein Konzept «Orientalismus» waren nicht nur ziemlich einflussreich, sondern wurden auch weitreichend missbraucht – und dieser Missbrauch hält bis heute an. Said wurde nicht müde, sein Bestes zu geben und die fehlerhaften Lesarten seiner bahnbrechenden Idee zu korrigieren. Trotzdem nahm der Missbrauch schließlich die Form von fetischisierten Redewendungen an. Es gibt heute Personen, die denken, der Begriff «Arabischer Frühling» sei eine Erfindung der Orientalisten; offensichtlich ist nicht bewusst, dass der «Frühling der Nationen» auch in den europäischen Revolution 1848 gebraucht wurde. Ein Kommentar, der die gewaltlose Anlage des arabischen Frühling heraushebt, als er noch am Anfang stand, war genug, um Anschuldigung von Orientialismus zu provozieren, oder schlimmer noch solche einer «Selbst-Orientalisierung». Tatsächlich, ob du es glaubst oder nicht, gibt es sogar Blogger, die den Vergleich zwischen der iranischen und der ägyptischen Revolution als ein Fall für Orientalismus betrachten!
An der Wurzel dieses Problems liegt der Umstand, dass Edward Saids Orientalismus (1978) heute den Status eines sprichwörtlichen Klassikers angenommen hat: Ein Buch das alle zitieren, aber schwerlich jemand liest. Aber weil der Begriff «Orientalismus» von seinen Verleumder_innen und Bewunderer_innen gleichermaßen systematisch zweckentfremdet wurde, oder effektiv ein Begriff für Missstände wurde, den man irgendjemandem oder irgendetwas, das man nicht mag, anschleudern kann, heißt dies aber nicht, dass dieses, eines der stärksten analytischen Konzepte des letzten Jahrhunderts, kategorisch vermieden, ignoriert oder «aus dem Diskurs herausgerissen» werden sollte, wie es der Jerusalem Post Kolumnist uns anweist zu tun. Ziemlich das Gegenteil: genau bei der Berücksichtigung dieses missbrauchenden Dilettantismus, braucht der Begriff unablässige theoretische Re/Artikulation. Hartnäckige Theoretisierung wird die Leute natürlich nicht davor bewahren ihn auf die eine oder andere Art zu missbrauchen, aber es würde dem Rest von uns helfen, diese Konfusion zu vermeiden, die ein solcher Missbrauch generiert.
Im Gegensatz zu Herrn Frantzmans Konfusion, sowie der vieler anderer – «Orientalen» und «Nicht-Orientalen» – war die Kritik des Orientalismus eine Kritik an der Wissensproduktion und sicherlich nicht das einer Rasse, Volkes oder Kultur. Der Modus der Wissensproduktion der «Orientalismus» genannt wird, war entsprechend dem europäisch-imperialen Projekt; die glückliche Tatsache, dass Gelehrte von Abd al-Rahman al-Jabarti bis V.G. Kiernan, Bernand S. Cohn, Anwar Abd al-Malik und Talal Assad alle die Beziehung von Empire und Wissen bereits vor Edward Said (oder sogar Michel Foucault) im Fokus hatten, zeigt, dass die Tradition dieser Kritik eine viel tiefere epistemologische Geschichte hat, gegenüber welcher jene, die den Begriff missbrauchen und jene, die sich damit beweihräuchern, gleichermaßen in seeliger Unwissenheit ignorant sind. Komplett unabhängig von Said und Foucaults Linie, kann diese Geschichte zurückverfolgt werden, wie ich in Post-Orientalism: Knowledge and Power in Time of Terror (2008) gezeigt habe, zu einer gewaltigen und vielseitigen Tradition in der Wissens-Soziologie, welche die Genealogie von Karl Marx (1818-1883), Max Scheler (1874-1928) und Georg Herbert Mead (1863-1931) mit einschließt. Es gibt mehr zum «Orientalismus» – und der konstitutionellen Beziehung zwischen Wissen und Macht – als man von einem New York Times oder einem Jerusalem Post Journalisten erfahren kann.
Wenn wir den Begriff «Orientalismus» auspacken und aufmerksam Saids Zerlegung dessen in seinen klassischen Studien betrachten, wird die sich entwickelnde historische Symbiose zwischen Wissen und Macht klar. Diese Lesart hilft einen Einblick in die Begriffe der neuen Wissens-Regime zu besorgen, von welchen ich schreibe seit dem Aufkommen der arabischen Revolution 2010 – die Prämisse, die Europäer_innen und Nicht-Europäer_innen ermöglicht, sich auf dem selbigenen Blatt zu bewegen und dort den Zustand der Kolonialität zu überwinden, welche dem einen verunmöglicht wurde, dies zu denken, und dem anderen, die Idiome einer aufkommenden Welt zu lesen.
Wissen und Macht
Nun, wo kommen wir zusammen, um durch unsere fragile Weltlichkeit hindurchzudenken, so dass «das Europäische» endlich demythologisiert und von seinem kolonialen und imperialen Rest an Arroganz abgelöst werden kann; so, dass wenn er oder sie mit mir philosophiert (dem muslimischen, orientalischen, dritte Welt Intellektuellen, oder ein anderes Wort, das gebraucht wird, um mich zu kennzeichnen oder zu entfremden), es nicht mehr so ist, als würde Obama oder Hillary Clinton oder die NATO Drohnen über die primitiven Taliban entsenden? Es ist schon lange überfällig, dass die Europäer_innen die Gewissheit ihrer mythischen Selbst-Philosophisierung verlassen und in die Geschichte zurückkehren. Sie müssen von ihrem hohen Ross und ihren dicken Humvees4 runterkommen und aufhören mich zu philosophieren und stattdessen freundlicherweise in Betracht ziehen, mit mir zu philosophieren. Im Moment des Absteigens werden sie mich, Walter Mignolo und Aditya sehen, wartend und mit den Laptops offen.
Aber wo wird der Ort dieses historischen Rendezvous sein? Machen wir einen Umweg.
«Orientalismus» ist heute zu einem journalistischen Klischee geworden. Das Problem mit dem journalistischen Gebrauch und Missbrauch ist, dass die Schreibenden zu einer Fetischisierung von Begriffen neigen, ohne die Schwierigkeiten des Lernens auf sich zu nehmen und zu übertragen, was dies bedeutet, wie ein Begriff ein organisches Leben hat und sich verändern. Gegen Ende meines Post-Orientalism (ein Buch, das von der Jerusalem Post noch entdeckt werden muss) argumentiere ich, dass wir den modus operandi der Wissensproduktion kategorisch als «Orientalismus» kennen und das Sujet von Edward Saids maßgebender Kritik war, sich inzwischen in einer degenerativen Phase auflöst, welche ich als «endosmosis» identifiziert habe oder als Einweg-Wissen – Wissen, das nicht mehr länger auf irgendeiner beständigen Wissenschaft begründet ist. Dieser Vorschlag begründet sich auf einer aktiven Historisierung von «Orientalismus» außerhalb der unmittelbaren Theoretisierung von Edward Said, welche hauptsächlich als literatur-kritisches Vorhaben in der Krise der Repräsentation eingebettet ist, in der Beziehung zwischen Wissen und Macht.
Als Modus von Wissens-Produktion, vertrete ich die Ansicht, ist Orientalismus nicht ein fait accompli, ein geschlossenes und eingekreistes Projekt. Er war das Produkt eines spezifischen Moments in der Geschichte des europäischen Kolonialismus und ein Resultat von Veränderung und Verhärtungen im Schicksal des Imperialismus. Dadurch war ich bestrebt eine historische, nuanciertere Konzeption von Orientalismus zu formulieren. Den aktuellen, Post-9/11-Zustand habe ich als einen amorphen Modus von Wissens-Produktion identifiziert, oder als Fall von epistemischer Endosmosis, in welcher die aggressive Formation eines Felds der allgemeinen Wissensproduktion über Muslime nicht mehr länger förderlich ist für eine entgegengesetzte Formation eines Souveräns (europäisch oder amerikanisch) oder eines allwissenden (kantianischen) Subjekts.
Die Umwandlung eines klassischen Orientalismus zu Gebiets-Studien (Area Studies) und von daher in ein Einweg-Wissen, welches an US-amerikanischen und europäischen Think Tanks produziert wird, so schlage ich vor, war angrenzend an das Aufkommen des Empires ohne Hegemonie. Diese epistemische Endosmosis – oder dieses interessierte Wissen, hergestellt in Think Tanks und in die öffentlichen Domänen durchgesickernd – ist, würde ich sagen, förderlich für verschiedene Modi von Einweg-Wissensproduktion, begründet auf einer nicht anhaltenden oder kohärenten Wissenschaft, aber tatsächlich an Einweg-Gebrauchsartikeln geformt, das zur sofortigen Genugtuung führt und dann nach einmaligem Gebrauch weggeworfen werden.
Das ist «Schnell-Wissen» produziert nach dem Model «Fast Food», mit Plastikbechern, Plastikmessern, Plastikgabeln, schlechter Ernährung, falscher Befriedigung. Die USA fällt in Afghanistan ein und diese Think Tanks produzieren Wissen, die auf diesem Projekt gründen; dann führt die USA eine andere Invasion in den Irak aus und diese Think Tanks fangen damit an, das Wissen über den Irak zu produzieren, mit wenig oder keiner Verbindung zu dem, was sie über Afghanistan gesagt haben, oder was sie über den Iran sagen würden. Es gibt wenig oder keine epistemische Übereinstimmung zwischen den dreien – weil diese Formen von Wissen unter Zwang produziert werden (mit engen Deadlines) und komplett wegwerfbar. Man wirft sie weg nach einmaligem Gebrauch:
In Post-Orientalimus vertrete ich die Ansicht, als eine institutionelle Reflexion dieser Transformation, heute rechtsgerichtete Think Tanks wie die zionistische WINEP (Washington Institute for Near Eastern Policy) oder die neocon, Operationen der Wissensproduktion sind, mit einer ausgedehnten universitäts-ersetzenden, institutionellen Basis, mit diesen Modi von Wissenproduktion im direkten Dienst des Empires. Diese beiden Institutionen – welche perfekte Beispiele für den Rest sind – stellen gebürtige Informant_innen ohne akademische oder forschende Qualifikationen ein, die ideologisch kompatibel sind mit ihrer Agenda. In einem brillianten Essay «Tentacles of Rage: The Republican Propaganda Mill, A Brief History», liefert Lewis Lapham eine detaillierte Aufstellung dieser Institutionen, mit den Netzwerken der amerikanischen Millionären und den rechten Stiftungen, welche sie seit den Bürgerrechts- und Antikriegs-Bewegungen der 1960er Jahren aggressiv unterstützt haben.
Meine Einschätzung zu dieser selbst-degenerativen Disposition von Orientalimus war und bleibt auf der Ansicht des späten (oder zumindest der letzten) Stadiums des Kapitalismus begründet – mit der Knappheit der Ressourcen und der immer aggressiveren Militarisierung imperialer Dominanz – sind wir nun nicht mehr Zeug_innen einer anhaltenden disziplinären Formation von Orientalismus in der Phase, in welcher Edward Said sie diagnostizierte. Kein orientalistischer Herr auf diesem bekannten Model des 19. Jahrhunderts ist mehr in Sicht – wenn wir die herausragende Forschung von jemandem wie Ignaz Golziher (1850-1921), zum Beispiel mit einer verstopften (paper-jammed) Propaganda-Kopier-Maschine, die man als Bernard Lewis kennt (geboren 1916) vergleicht. (Eine meiner grundlegenden Aufgaben in Post-Orientalism war Ignaz Goldziher vor dem starken Missbrauch zu schützen und zu entlasten gegenüber zionistischen Biographen und muslimischen Verleumder.)
Mein Anhaltspunkt bezüglich dieses Vorschlags war ganz auf Max Webers letzten, prophetischen Worten in Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus (1905) gegründet. «Eines der fundamentalen Elemente des Geistes modernen Kapitalismus», beobachtet Weber, «und nicht nur das, sondern jeglicher moderner Kultur: vernünftiges Verhalten auf der Basis von Ideen der Berufung wurde […] vom Geist der christlichen Askese hervorgebracht.» Dieser einzigartige Einblick Webers in die kapitalistische Moderne bringt ihn zu einer schönen Einsicht, dass «die Puritaner die Arbeit als Berufung wollten; wir sind gezwungen dazu.» Daraus schließt er:
«Seit Asketismus die Umformung der Welt unternommen hatte und die Arbeit zum Ideal in der Welt wurde, haben materielle Güter eine wachsende und schlussendlich unerbittliche Macht über die Leben der Menschen eingenommen, als gäbe es keine vorhergehende Periode in der Geschichte. Der heutige Geist des religiösen Asketismus– ist aus seinem Käfig ausgebrochen. Aber der siegreiche Kapitalismus, seit er auf mechanischen Grund steht, braucht die Unterstützung nicht mehr länger».
Was die Aufklärung betrifft, umgeht Weber mit seinem gelegentlichen, aber erhabenen Sinn für Humor: «Die rosige Errötung ihres lachenden Erbes, die Aufklärung scheint auch unwiederbringlich zu verblassen und die Idee von Pflicht in ihrer Berufung schleicht herum in unseren Leben, wie die Geister der toten religiösen Glauben.» Die scharfsinnige Diagnose dieser degenerativen Spirale wird dann zur Prämisse, auf welcher Weber seine magistralen Einsichten zum Schicksal unseres Menschseins im Großen und Ganzen und den Geist des Kapitalismus im Spezifischen aufbaut: Niemand weiß, wer in Zukunft in diesem Käfig leben wird, oder ob am Ende dieser enormen Entwicklung ganz neue Propheten wachsen werden, oder ob eine große Wiedergeburt von alten Ideen und Idealen stattfinden wird, oder wenn beides nicht, ob die mechanisierte Verhärtung, krampfhaft die Selbst-Verherrlichung beschönigt. Für diese letzte Stufe der kulturellen Entwicklung ist vielleicht wahrhaftig gesagt: «Spezialisten ohne Geist, Sinnliche ohne Herz; diese Nichtigkeit denkt, dass einen Level von Zivilisation erreicht werden kann, der vorher noch nie erreicht wurde».
Der Orientalismus dieser Epochen, welche mit dem untergehenden Geist des Kapitalismus und dem räuberischen Imperialismus korrespondieren, die das ultimativ Verkümmerte in die Propaganda-Maschinerie von Bernard Lewis mitbringt, die mit der Nichtigkeit korrespondieren, die Weber passend charakterisiert. Aber war es denkbar, dass Bernard Lewis das Beispiel par excellence eines «Spezialisten ohne Herz, Sinnlicher ohne Herz» ist, lade ich meine Leser_innen dazu ein, einen Blick auf Nicholas Kristof (und auf Seth J. Frantzman) auf den kostbaren Seiten unseres «Paper of Record» zu werfen, der Jerusalem Post, wie man sie nennt, um zu sehen, wie diese weberianische «Nichtigkeit» weiterhin degenerierend wirkt.
Weit außerhalb der Grenzen solchen journalistischen Dilettantismus‘, wie auch immer, sollte die Kritik der Rückstände des Orientalismus in die öffentlichen Sphären, nicht mehr gegen die Politik der Repräsentation, sondern in das genaue Gegenteil erfolgen, in die Krise der Ideologie, Rechtmäßigkeit und Hegemonie, die dieser Phase des globalisierten Imperialismus gegenübersteht. Diese Kritik ist notwendig, weil wir in der muslimischen Welt im Spezifischen auf der Spitze einer neuen Befreiungsgeografie (im Detail besprochen in The Arab Spring: The End of Postcolonialism), und dem demokratischen Aufstand, dessen Zeug_innen wir sind, neue Metaphern gebaucht werden und eine radikale Transformation der Wissens-Regime, die im wesentlichen im Slogan des Tahrir-Platz zu finden sind: «Die Leute wollen das Regime stürzen».
In der Abwesenheit dieser radikalen Umgestaltung von Wissensregimen, mit welcher wir die arabischen und muslimischen Revolten lesen, sind wir dem Bernard Lewis, dem Allzeit-Liebling der Jerusalem Post ausgeliefert, dessen bevorzugter bildliche Ausdruck durch seine unbekümmerte und veraltete Konzeption von Sex und Bordellen gelesen wird. «Wir haben diese große Anzahl an jungen Männern, die ohne Geld aufwachsen, weder für das Bordell noch für den Brautpreis», sagte Lewis einmal zu Setz J. Frantzmanns Kollegen bei der Jerusalem Post, um so die arabischen Revolten zu erklären, «mit tobendem sexuellen Verlangen. Auf der einen Seite, kann es zum Suizid-Bombern führen, der durch die Jungfrauen im Paradies angezogen wird – die einzig Verfügbaren für ihn. Auf der anderen Seite reine Frustration.» Dies sind Frantzmans bevorzugte Möglichkeiten die welt-historischen Ereignisse zu verstehen, deren Zeug_innen wir sind. Jegliche Kritik von solchem Geschwafel, das von diesem abgedroschenen aber offensichtlich immer noch lebhaften Bild eines alternden Orientalisten wird ihn in die falsche Richtung führen.
Die Kampflinien sind dadurch genauso stark in den Straßen und Plätzen unserer öffentlichen Sphäre gezogen, wie um das neue régime du savoir, welches wir brauchen um unsere entstehende Welt zu verstehen und zu verändern. In diese Richtung müssen wir mit den verbleibenden Hinterlassenschaften dieser altmodischen Orientalisten und ihren unterschiedlichen Transmutationen aufräumen; das theoretische Analphabetentum, das den Begriff fetischisiert hat und ihn immer noch missbraucht, aufdecken und den aufkommenden Tatsachen unserer öffentlichen Sphäre erlauben, die neuen Wissens-Regime zu definieren, die unsere Widerstands-Kraft anspricht und hilft, sie zu einer institutionellen Forderung in dieser Sphäre zu machen.
In dieser Richtung liegt Joel Beinin mit der Beobachtung richtig, dass wir als Folge der ägyptischen Präsidentschaftswahlen eine neue politische Sprache brauchen. Aber diese Sprache wird genauso aus politischen Allianzen entstehen, suggeriert Joel Benin richtig, wie aus einem viel größeren Rahmen epistemischer Referenzen, die diese Revolution erst ermöglichten. Ebenso entscheidend wie aufschlussreich ist Seumas Milnes Anregung, dass «Ägyptens Revolution […] nur durch deren Verbreitung gesichert» wird. Aber dieser Prozess der Verbreitung braucht auch eine «neue politische Sprache», die Beinin verlangt, jetzt, bevor Seth J. Frantzman die Homeland Security kontaktiert und uns alle um die Staatsbürgerschaft bringt und nach Guantánamo Bay verschifft.
Macht ist Macht
Ich nahm diesen Umweg einer Kritik des Post/Orientalismus deshalb, weil diese militanten Falschdeutungen genau das wahnhafte Prisma sind, welches mich, Walter Mignolo und Aditya Nigam von Žižek, Zabala und Marder trennt. Statt der gewohnten mise-en-scène, in welcher wir zu ihnen reden können, während sie zu sich selber reden, müssen wir die gesamte Architektur dieser Unterredung verändern und den einzigen Gesprächspartner ansprechen, der für uns noch geblieben ist: eine gebrochene und selbstzerstörerische Welt. Die europäischen Philosoph_innen können das, was sie als «Krise des Subjekts» betrachten, nur überwinden, in dem sie den kantianischen cul-de-sac, dieses wissende Subjekt als das europäische wissende Subjekt vermeiden, welches uns – den Rest der Welt – bestimmt als ihr erkennbares Gebiet. Wir sind nicht mehr (falls wir es jemals waren) erkennbar für das europäische wissende Subjekt. Weil wir nicht mehr als das existieren, was sie im Prozess der selbstzentrierten Unterwerfung ergründet haben, haben sie also aufgehört, als unser oder irgend eine andere Art von wissendem Subjekt zu existieren. Sie wissen und können auch nicht mehr wissen. Das europäische wissende Sujekt, in dem Maß, dass es in die toten Gewissheiten des «Europäisch»-Seins eingesperrt ist – nämlich, wie Fanon sagt, «die Erfindung der dritten Welt» – kann kein Hinweis geben, wer und was wir/sie sind. Wir müssen die Tatsache auflösen, dass wir gegenseitig das Hirngespinst unser Imagination sind. Wir haben nun Kurtz mit Heart of Darkness und Mustapha Said mit Season of Migration to the North in der Mülltonne der Geschichte deponiert.
Wir kommen also an einer neuen Versammlung von Wissen und Macht zusammen, nicht um zu trauern, aber um die Verbindung zu lösen. Hier ist der Wille nicht zur Macht; sondern Wille der Macht zu widerstehen.
Wenn die negative Dialektik (Adorno) dereinst postuliert ist, werden wir alternative Welten sehen, die außerhalb von «dem Westen und dem Resten» auftauchen. Diese Welten existieren und ermöglichen hier und jetzt; sie sind nicht im 17. Jahrhundert angesiedelt. Noch sind diese Welten auch am Rande dessen, was in den beiden Polen Cyberspace und Weltraum subsumiert wird, verbunden mit der Geopolitik, die unser Leben regelt, zu den Cyber- und Astropolitiken, die unsere Physikalität schrumpfen lässt, in dem Moment, wenn all die reichen Leuten in den Himmel geflogen sind, um auf einem Satelliten zu leben, uns verlassend, die Unglücklichkeit der Erde, auf der Erde.
Von diesem Punkt aus möchte ich ihnen Ahmad Smahlou, Nazem Hekmat, Mahmoud Darwish und Faiz Ahmad Faiz beibringen, in Dankbarkeit darüber, was ich von ihrem Heidegger, Derrida, Badiou und Rancière gelernt habe. Ich möchte gerne europäische Philosoph_innen einladen, die Poeten nicht durch exotisierte Augen des Orientalismus oder Gebiets-Forschung (Area Studies) zu lesen, sondern mit der gleichen Einstellung einer kritischen Vertrautheit, mit welcher sie auf ihre eigenen Philosoph_innen zugehen. So wünsche ich mir für sie, dass sie mich begleiten, das Binäre zwischen Philosophie und Poesie niederzureißen, neben mich zu stehen, wenn ich ihnen die poetische Philosophie unserer Dichter zeige, ihnen lehre, wie man die philosophische Poesie von Nietzsche bis Blanchot neulesen kann. Wenn wir Shamlou lesen, werden sie Heidegger über Rilke besser verstehen; und wenn wir Darwish lernen, werden sie Langston Hughes, James Baldwin und C.L.R. James in einem ganz anderen Licht sehen.
Dies ist nicht bloß eine Welt in meiner Imagination. Sie ist real. Hier auf der Welt, hat die Entleerung des Mythos des «Westens» eine neue Allianz erschaffen. Zionist_innen in Israel denken und verhalten sich genau wie die Islamist_innen im Iran, haben sich als eine neue Generation von Kollaborateur-Intellektuellen nach Europa und Nordamerika bewegt und arbeiten mit der Neoncon-Kohorte zusammen, um ihr Heimatland in den Morast des globalisierten Neoliberalismus zu führen. Berüchtigte Islamophobe wie Ayaan Hirsi Ali und Foad Ajami sind Muslime, von deren Gesellschaft ich glücklich zu jener von Giorgo Agamben, Alain Badiou, Daniel Bensaïd, Wendy Brown, Jean-Luc Nancy oder Jacques Rancière fliehen würde, an jedem Tag und zweimal am Wochenende. Auf der anderen Seite der Teilung stehen diejenigen, welche die Anklage gegenüber «Orientalismus» aus einer Machtposition heraus missbrauchen.
Es sind nicht nur solche wie der Jerusalem Post Kolumnist, die sich vom Begriff «Orientalismus» beweihräuchern lassen. Er wird auch von den führenden Propaganda Offizieren der Islamischen Republik missbraucht, als Angstmache um ihre Opponenten zum Schweigen zu bringen. Seth J. Frantzmans Gegenstück im Iran ist Mohamed Marandi. Bekannt mit beiden dieser Kräfte, repräsentiert von Frantzman (Zionist) und Marandi (Islamist), ist dies das grundlegende Verständnis des saidschen Arguments in Orientalismus: die Beziehung zwischen Wissen und Macht. Jene an der Macht in Israel mögen den Begriff des Orientalismus genauso nicht, wie jene, die in der Islamischen Republik an der Macht sind, ihn mögen und ihn für ihre eigenen Zwecke missbrauchen. Was Israels Propagandisten und ihre Gegenstücke in der Islamischen Republik gemeinsam haben, ist, dass sie beide an der Macht sind. Es gibt nicht den kleinsten Unterschied zwischen der Art und Weise, wie Zionisten wie Frantzman die Palestinänser_innen zum Schweigen bringen wollen, zu derjenigen der Propaganda-Offiziere der Islamischen Republik wie Marandi, welche die Stimme seiner Opponenten ersticken möchte.
Betrachtet man die Tatsache, dass die Islamische Republik Doktorand_innen vom einen Ende der islamischen Welt zum anderen befördert, um in den Iran zu gehen und dort schiitische Seminare zu besuchen oder irgendwo in Europa oder den Vereinigten Staaten zu studieren und dort einen Abschluss in «islamische Studien» zu erhalten; um schließlich den Kräften beizutreten, dem regierenden klerikalen Establishment, um die militante Auslegung des Schiismus zu stärken, welche mit den politischen Interessen der herrschenden Ideologie kompatibel ist. Diese Doktorand_innen – später junge Fakultäts-Mitglieder_innen – finden sich schnell auf der Existenzgrundlage wieder, zufällig den führenden Propaganda Offizieren der Islamischen Republik zu helfen und diese zu unterstützen, schreibend und Wissen generierend von und für die Machtposition, derer sie dienen. Das Unternehmen dieser Mach/Wissen-Symbiose ist identisch mit der des Orientalismus.
Diese Propagandisten nennen sich selbst «Professor» und arbeiten in den besetzten Territorien der Universität in Teheran, wo Generationen von Grundsätzen und kompromissloser Fakultät systematisch ausgelöscht wurde. Sie wagen sich Artikel zu schreiben und diese auf Al Jazeera zu publizieren und die Anklage des Orientalismus an den «Westen» anzugleichen. Außerdem ermöglichen sie Ex-CIA-Agenten Artikel und Bücher zu schreiben, welche die Legitimität der Grünen Revolution abstreiten. Es sind nicht nur europäische Orientalist_innen, die ihre Macht-Positionen missbrauchen, um Wissen im Dienste dieser Mächte zu produzieren. In dieser Frage stehe ich diesen Propagandist_innen bestimmt entgegen, welche die Nation brutalisiert haben und über unser Schicksal entscheiden. Mein «ein iranischer Forscher»-Dasein ist nichts als eine Finte.
Ist die Mutter von Sattar Beheshti, deren Sohn in den Gefängnissen der Islamischen Republik umgebracht wurde eine Orientalistin? Sind die Mütter von Neda Agha Soltan und Sohrab Arabi, welche von den Agenten des Sicherheitsapparates des Islamischen Staats einfach direkt umgebracht wurden, Orientalistinnen? Ist Mohammad Nourizad, der sein Leben riskierte, um die Welt über die Gräueltaten der Islamischen Republik zu informieren, ein Orientalist? Sie die bekannten politischen Gefangenen Mohsen Aminzadeh, Mostafa Tajzadeh, Abdollah Ramazanzadeh, Feizollah Arabsorkhi, Moshen Safai Farahani, Mohsen Mirdamadi und Behzad Nabav Orientalist_innen? Sind Mir-Hossein Mousavi und seine Frau Zahra Rahnavard sowie deren Freund, der Präsidentschaftskandidat Mehdi Karroubi – die alle vom herschenden Regime betrügerischen Verhaltens und Machtmissbrauchs beschuldigt wurden – auch Orientalist_innen?
Allianz-Linien und Solidarität haben lange zuvor die falsche Binarität gekreuzt, «der Westen und der Rest».
Die heftige Dringlichkeit des Jetzt
Die sich verschiebenden Macht-Zentren sind amorph geworden und produzieren genauso instabile Wissens-Modi. Das, was ich «Befreiungs-Geografie» genannt habe, eine Welt im Gesamten, ist heute aktiv damit beschäftigt, sich selbst neu zu imaginieren. Dieses Buch5 ist von einem Gefühl für «die heftige Dringlichkeit des Jetzt» durchzogen, wie Martin Luther King die Schlüsselmomente nannte, eine Form der Augenzeugen-Geschichte aus den Schützengräben. Diese Art zu denken ist das Material für eine zukünftige Geschichte unserer Gegenwart. Außerhalb des Zustands der Kolonialität befand sich der reaktive Moment der Postkolonialität. Die kombinierten Effekte der Grünen Revolution im Iran und der arabischen Revolutionen haben dem ein Ende gesetzt – viel mehr epistemisch als politisch. Politisch toben die Kämpfe nicht nur in Ägypten oder Syren, sondern auch in den Schützengräben der Ideen, die nicht mehr mit der banalen Aufspaltung in «den Islam und den Westen» und «den Westen und den Resten» abgetan werden kann.
In meinem Essay «Can Non-Europeans Think?» stellte ich eine ganz einfache Frage. Ein paar junge europäische Philosophen dachten, sie seien selbst damit gemeint, auch wenn ein kurzer Blick auf den Titel reicht, um klar zu machen, dass ich Nicht-Europäer_innen meinte. Ich habe aus deren Antworten geschlossen, dass ein struktureller Fehler in der Verfassung des europäischen philosophischen Gehirns vorliegt, zumindest in der Version dieser zwei philosophischen Praxen: Sie können die Gedanken anderer Leute nicht lesen, auch wenn diese die linguistische Teilung überschritten haben und in einer ihrer Sprachen schreiben. Eine davon hat sich die koloniale Bürde der ganzen Welt auferlegt; infolgedessen sind sie blind für diese anderen Bereiche, lesen nicht ihre Schriften, können ihre Universen nicht ergründen und gleichen systematisch und regelmässig alles, was sie lesen, an etwas an, was sie bereits wissen und epistemisch über die Welt zusammenmatschen. Dies ist wohl natürlich für sie, aber es ist eine doch ein Plage für die Welt im Ganzen, für die Bewohner_innen der anderen Welten, jener, welche der europäische Imperialismus heimsuchte, als Ruinen zurückließ und dessen Bewohner_innen wirklich die Dinge für sich selbst ausfädeln.
Diese Philosophen können den Gedanken des Moments nicht begreifen, dass eine Denker_in möglicherweise gar nicht zu ihnen spricht, sondern eher neben ihnen steht, nicht über und nicht unter ihnen, und auch nicht dort. Sie sind blind für eine Welt, in der andere Leute ihre undenkbaren Gedanken denken. Wenn ihre Anthropolog_innen und Gebiets-Spezialist_innen die Welt für sie deuten, gleichen sie diese an das an, was sie bereits wissen, und was sie wissen, ist; wie zu regieren, wie zu haben, wie zu besitzen und wie die Welt unter Missachtung des Willens, der Wünsche und im Widerstand gegen deren Willen zu Wissen ihrer Bewohner_innen zu kartografieren. Dieser Wille zu Wissen hat sie zum wissenden Subjekt gemacht, seit Immanuel Kants Texten; denjenigen, die aussagten, dass wir farbigen Leute (colored folks) nicht denken können, weil wir farbig sind (we are colored), und somit Teil der erkennbaren Welt sind. Eine Karte, die für andere bekannter ist, wird sie wahnsinnig machen, also beschließen sie, dass jene, die diese Karten gemacht haben und mit denen leben, wahnsinnig sind. Orientalismus dreht sich um Wissen und Macht; es geht nicht nur um europäische Macht und das Wissen, das gebraucht wird, um die Welt zu beherrschen. Alle Empires haben Wissen produziert, das mit ihren imperialen Interessen kompatibel war, so gesehen bei den Arabern, Persern, Mongolen, Römern und so weiter.
Europäer als Europäer (das gesättigte Zeichen einer Selbst-Überhöhung und andere-erniedrigende Listen) werden unfähig bleiben zu lesen, wenn und bis sie in den Rest der Menschheit als gemeinsame Aufgabe eintreten, die nächste Ebene; Neuzeichnung der Welt. Die Beziehung von Wissen und Macht sind multibel und vielfältig. So kann die Islamische Republik Iran etwas nachäffen und sogar den Einsatz auf das Model einer imperialen Vorstellung von weicher Macht erhöhen, mit dem Überdenken der asymmetrischen Kriegsführung. Wir müssen also den Gesprächspartner wechseln, weil wir nicht mehr mit dem toten Gesprächspartner mit dem Code-Name «Europa» oder «der Westen» sprechen. Weil «der Westen» war, (wie Fanon sagte), die Erfindung der dritten Welt; seit diese dritte Welt implodiert und auf die Suche nach seiner eigenen Zukunft außerhalb der europäischen Imagination gegangen ist, tat dies «der Westen» auch. Und dort wo die koloniale Welt einmal war, ist heute eine leere Echo-Kammer, die auf zukünftige Philosoph_innen wartet, europäische Denker_innen wie Zabala und Marder müssen aufhören, mit ihren philosophischen Drohnen zu spielen. Sonst wird, wenn ihr Lieblings-Guru «Fuck You, Walter Mignolo!» schreit, nur noch ein Echo seiner eigenen Worte in seiner eigenen Stimme zu hören sein: «Fuck you…».
[Übersetzt vom Englischen für Madame Psychosis von Michael Grieder und Adrian Hanselmann]