Einsame Körper
«Anna Göldin [sic.], aus der Gemeind Sennwald, der Landvoghtey hohen Sax und Forstek zugehörig, Zürchergebiets, ohngefähr 40 Jahr alt, dicker und großer Gestalt, vollkommnen und rothlechten Angesichts, schwarzer Haaren und Augbrauen, hat graue etwas ungesunde Augen, welche meistens rothlecht aussehen, ihr Anschauen ist niedergeschlagen, und redet ihre Sennwälder Aussprach, tragt eine modenfarbne Jüppen, eine blaue und eine gestrichelte Schos, darunter eine blaue Schlingen- oder Schnäbeli-Gestalt, ein Damastenen grauen Tschopen, weis castorin Strümpf, ein schwarze Kappen, darunter ein weisses Häubli, und tragt ein schwarzes Seidenbettlj.»
Steckbrief vom 9. Februar 1782 in der Zürcher Zeitung
«Der Körper der Frauen ist in der kapitalistischen Gesellschaft das gewesen, was die Fabrik für männliche Lohnarbeiter gewesen ist: der Hauptschauplatz ihrer Ausbeutung und ihres Widerstandes.»
Silvia Federici – Caliban und die Hexe
«Die feministische Agenda geht nicht um gleiche Rechte für Frauen. Es geht um eine sozialistische, anti-familiale politische Bewegung, welche Frauen dazu ermutigt, ihre Ehemänner zu verlassen, ihre Kinder zu töten, Zauberei zu praktizieren, Kapitalismus zu zerstören und Lesben zu werden.»
Washington Post, 23 August 1992 – Fundraising-Brief gegen «Equal Rights Initiative in Iowa»
«Feminismus ist immer noch subversiv. Es ist immer noch furchterregend. Feminismus heisst, dass sich der Humanismus vorwärts bewegt und die Ungleichheiten anspricht. Und dass Frauen anführen. Unabhängige Frauen, die keine Männer brauchen für ihr emotionales, physisches und ökonomisches Wohlbefinden, sind immer noch furchterregend. Auch jene von uns, die Männer lieben. Ich denke der Fakt, dass Unabhängigkeit anstreben angsteinflössend ist, weil wir alle Paradigmata herausfordern. Wenn wir auf der Höhe sind, fordern wir heraus, wie Macht konstruiert wird. Wir fordern heraus, wie Wissen übermittelt wird. Wir sind einfach zu mächtig, zu unkontrollierbar, zu queer.»
Marcia Gallo im Interview mit Sarah Schulman – Gentrification of the Mind
Im Mai 1782 gab Anna Göldi unter Folter zu, dass sie das Kind ihres Dienstherren verderbt habe, indem es ihm eine verhexte Süssigkeit verabreichte und ihr Stecknadeln in die Milch legte.1 Am 13. Juni 1782 wird sie wegen diesen Taten mit dem Schwert hingerichtet. Fast ein Jahrhundert, nachdem das letzte Mal im Glarus eine Hexe verurteilt worden war, fand damit noch einmal eine solche Hinrichtung statt, ohne aber im Prozess jemals das Wort Hexe zu gebrauchen. Anna Göldis Odyssee kommt damit zu einem Ende. Ihr Leben nahm 20 Jahre vor ihrem Tod eine folgenreiche Wende. Wie es für Frauen in ihrem Stand üblich war, arbeitete sie als Dienstmädchen in verschiedenen Haushalten. Zuerst in ihrem Geburtsort im Rheintal. 1765 brachte sie mit 31 Jahren ein uneheliches Kind zur Welt, das noch am gleichen Tag verstarb. Obwohl der frühe Kindstod keine Seltenheit war, wurde sie des Kindsmords verdächtigt und musste daraufhin als Stigmatisierte das Land verlassen. Sie ging nach Glarus, um dort wiederum als Magd in verschiedenen Haushalten zu arbeiten. Bei einer dieser Anstellungen, im Haus einer äußerst reichen Familie, brachte die Liaison mit dem Sohn des Hauses ein Kind hervor, das gesund zur Welt kam, dann aber weggegeben werden musste. Zwei Jahre vor dem Prozess gegen sie begann sie ihre Anstellung bei einer einflussreichen, aristokratischen Familie mit vielen Kindern. Anna Göldi wurde aber nach etwas mehr als einem Jahr wieder entlassen, mit dem Vorwurf, sie hätte sich mit der zweitältesten Tochter überworfen und ihr als Rache Stecknadeln in die Milch gelegt. Sie wehrte sich daraufhin und beschwerte sich bei dem Landammann und dem kirchlichen Vorsteher, dem «Camerarius» von Glarus. Beide gehörten aber derselben Familie wie ihr ehemaliger Arbeitgeber an, von dem sie auf diesem Weg einen Schadensersatz forderte. Die beiden Würdenträger erhörten ihre Bitte nicht und wiesen sie an, den Ort und das Land zu verlassen, woraufhin Anna Göldi ihr Hab und Gut bei einem Freund, einem Schlossermeister, im Glarus zurückliess und wieder in ihre Heimat im Rheintal zurückfuhr. Im Glarus wurde sie bald zum Tagesgespräch: Es ging das Gerücht um, sie und ihr Dienstherr hätten ein Verhältnis gehabt – eine folgenreiche Anschuldigung für die Beteiligten, insbesondere für den Dienstherren. Im Falle einer Verurteilung wegen Ehebruch hätte er alle seine Privilegien und Ämter per sofort abgeben müssen. Das Thema ließ sich nicht mehr ignorieren, dass der Dienstherr zum Angriff überging und Anna Göldi steckbrieflich suchen ließ. Trotz mehrfacher Warnung von Bekannten gelang es den Behörden, die Magd zu stellen und nach Glarus zu verfrachten. Dann begann die eigentliche Verschwörung um die Verderbung. Die einflussreiche Familie des Dienstherren, der auch die hohen Ämter der Gerichtsbarkeit unterstanden sowie mit ihrem Bekanntenkreis Ärzte und Zeugen umfassten, baute den Prozess gegen Anna Göldi und später auch gegen ihren Freund, den Schlossermeister auf. Mit Zeugenaussagen wurde die Geschichte gestützt, dass das zweitälteste Kind des Dienstherren Stecknadeln, Nägel, Drähte und Metallteile unter großen Schmerzen und körperlichen Anfällen erbrach. Zudem sei eines seiner Beine kürzer als das andere, und damit könne es nicht richtig gehen. Grund dafür soll eine Süssigkeit gewesen sein, die der Schlossermeister aus Eisenspänen, Steinmehl und anderen Zutaten gebacken habe, die Anna Göldi dem Kind dann gegeben haben soll. Mehrere Ärzte bezeugten ihre Ratlosigkeit gegenüber den vermeintlichen Symptomen damit, dass es sich dabei um einen Pakt mit dem Teufel handeln müsse. Anna Göldi wurde aufgefordert, das Kind wieder zu heilen, das sie verderbt hatte. Sie hatte keine Wahl: Wäre sie dem nicht nachgekommen, hätte sie als noch böser und hinterhältiger gegolten. Sie erklärte sich bereit, das Kind zu «heilen», strich ihm über den kranken Fuß und gab ihm Abführmittel. Nach wenigen Begegnungen war das Kind «geheilt», und Anna Göldi als Kindsverderbin überführt. Nachdem sich ihr Freund, der Schlossermeister in der Zelle erhängte, was dem Gericht durch Beschlagnahmung des Vermögens des Selbstmörders die gesamten Gerichtskosten finanzierte, wurde Anna Göldi hingerichtet.
Die Geschichte der Hexenverfolgung, die mit der Hinrichtung von Anna Göldi an ein Ende gelangt, hat zwei Anfänge. In der griechischen Mythologie und im alten Testament finden sich die Bilder der Zauberinnen, die etymologisch zwischen Heilerin und bösen Mächten oszillieren. Erste offizielle Anklagen wegen Hexerei fanden im römischen Reich im dritten Jahrhundert statt.2 Im späten Mittelalter begannen diese dann von neuem mit der Verfolgung der Häretiker*innen. In Europa wurden, Stand der heutigen Forschung, 60’0003 Frauen zum Tode verurteilt4, viele mehr angeklagt. In der Konstruktion der Hexe konnten verschiedene Absichten vereint werden. Einerseits als moralische Geste der monokausalen Erklärung mannigfaltiger Unglücke. Damit einhergehend konntenÄngste geschürt und organisiert werden, und somit eine entsprechende Regierungsform implementiert werden: Der Justiz-Terror der Hexenverfolgung, der «gefährliche» Menschen mit einer Zuschreibung der bösen Magie oder dem Pakt mit dem Teufel komplett diffamieren und außer Gefecht setzen konnte. Gleichzeitig wurde die Legitimation der damals vorherrschenden kirchlichen Regierung im Kampf des Guten gegen das Böse gestärkt. Der Prozess gegen Anna Göldi zeigt exemplarisch die Verschmelzung von Ökonomie und Politik, die sich durch die verschiedenen Interessen der Beteiligten überschnitten. Die Erhaltung von Macht und Reichtum durfte nicht durch Standesfremde im Allgemeinen und schon gar nicht durch standesfremde Frauen in Gefahr geraten. Die Zuschreibung als Delinquente und dann als Hexe produzierte eine sofortige Vereinzelung der Person. Verbleibende Unterstützer*innen wurden damit in ihrer Macht gemindert, mit der Drohung, dass sie, wie der Schlossermeister, in die Anklage mit einbezogen wurden und durch Folter aller Angeklagten ein Keil in diese Beziehungen geschlagen wurde. Während der Jahre, in denen die Hexenverfolgung in vielen Regionen Europas stark verbreitet war, kann diese ständige Gefahr für die Bevölkerung und vor allem für die Frauen als Erfahrung der Einsamkeit gelesen werden. Die Einsamkeit begann bereits damit, dass die Gefahr bestand, jederzeit vereinzelt oder isoliert werden zu können. Jedes falsche Wort zu einem Dienstherren oder einem anderen Standeshöheren, jede Handlung war potenziell gefährlich. Bei Frauen kam hinzu, dass die Reproduktion ins Zentrum rückte und das Kinder-Kriegen, während nur schon die Anzahl der Kinder, die nicht das Erwachsenenalter erreichten, nicht unerheblich war. Des Kindesmords verdächtigt zu werden, konnte damit fast jeder Frau passieren, bei einem eigenen Kind wie auch als Hebamme, Dienstmädchen oder Magd bei den Kindern anderer.
Die Gefahr der Isolation und des Todes infolge der Hexenverfolgung beginnt in der spätmitteralterlichen Gesellschaft Europas, im Übergang zur aufgeklärten Moderne und dem industriellen Kapitalismus, wie Silvia Federici in ihrer Forschung Caliban und die Hexe analysiert. Sie rückt damit die «Übergangszeit zum Kapitalismus» in ein feministisches Licht und setzt dort an, wo die Abwertung der Frau, die Versklavung der Kolonien als ursprüngliche Akkumulation zusammenlaufen, wie sie Marx in Das Kapital als Dialektik der Arbeitsteilung und Mehrwertproduktion formulierte. Es ist die globale, kapitalistische Geschichte, die die Arbeitskraft und insbesondere deren Reproduktion ins Zentrum stellt. Die Hexe tritt in dem Moment auf die Bühne der Welt, als die feudale Herrschaft im späten Mittelalter zu bröckeln beginnt und sich damit die Produktionsweise verändert. Die Druckerpresse wird erfunden, die Kirche zweigeteilt, die Leibeigenen werden zu Arbeiter*innen und die Frauen zu Produzentinnen des wichtigsten Gutes für eine auf Arbeit fixierte Mehrwertproduktion: der Arbeitskraft. Ein Umstand, der die Kontrolle über die Frauen und deren reproduktive Fähigkeiten für das Kapital notwendig macht und sie zu diesem Zweck vereinzelt.
Hexen und Reproduktion
Die Analysen von Karl Marx führen die Trennung von Reproduktion und Produktion ins Feld.5 Diese Dichotomie ist keinesfalls «natürlich», sondern das Merkmal der Übergangsphase zum Kapitalismus, die im 14. Jahrhundert beginnt6: «Im feudalen Dorf gab es keine gesellschaftliche Trennung zwischen der Produktion von Gütern und der Reproduktion der Arbeitskraft; jede Arbeit trug zum Lebensunterhalt der Familie bei.»7 Die mittelalterliche Gesellschaft, mit den Allmenden als Zentrum der weiblichen, relationalen Sozialität; die gemeinsamen Arbeiten wie Waschen, Spinnen, Ernten, Tiere hüten wurden mit anderen Frauen des Dorfes ausgeführt. Die Abgaben wurden als Fronarbeit gemeinsam geleistet. Erst mit der Einführung der Geldabgaben im 15. Jahrhundert waren die Bauer*innen nicht mehr in der Lage zu unterscheiden, wann sie für die Obrigkeit und wann sie für ihre Subsistenz arbeiteten. Dies hatte tiefgreifende Folgen für die gesamte Bevölkerung, insbesondere aber für die Frauen. Die verschärfte Trennung der gemeinsamen Sphären der Subsistenz-Arbeit in einzelne Abgabepflichtige und der Notwendigkeit Geld zu erwirtschaften, statt die eigentliche Produkte ihrer Arbeit, führte dazu, dass die Kernfamilie an Bedeutung gewann. Außerhalb dieser war es mit der damit implementierten, geschlechterspezifischen Arbeitsteilung und dem vermehrt an den Mann gekoppelten Erwerb für Frauen umso dramatischer. Frauen, die nicht einer solchen Kernfamilie angehörten, waren dazu gezwungen, in anderen Familien, die Reproduktionsarbeit im Haushalt als Dienstmädchen zu leisten oder als Magd zu dienen. Die Möglichkeiten, einen Hof zu erhalten und zu halten, wurde für Frauen zudem erschwert, insbesondere, wenn sie alleinstehend oder verwitwet waren: So waren unter den vielen Menschen, die in die Städte zogen, der größte Teil Frauen auf der Suche nach Arbeit.8
Durch die schwere demografische Krise in Europa und den daraus resultierenden Arbeitskräftemangel wurde das Bevölkerungswachstum beziehungsweise die Reproduktion von Arbeitskraft zu einer zentralen gesellschaftlichen Frage.[9]Die Frauen wurden als die potenziellen Produzentinnen der Arbeitskraft ins Visier genommen. Frauen ohne Kinder waren bereits per se verdächtig – ein Verdacht, den sie in den folgenden Jahrhunderten nicht mehr los wurden, eine Erfahrung, die noch vor der spezifischen polizeilichen Gewalt oder Verfolgung eine Erfahrung der Einsamkeit ist. Keine Frau konnte sich sicher davor sein, dass sie durch die rudimentären Rasterungen nicht in das Netz der Anrufung als Hexe verfällt. Einsamkeit implizierte einerseits, das aus der Vereinzelung ein Auf-Sich-Allein-Gestellt-Sein wird, andererseits das Wissen, dass dem einen Ereignis der möglichen Zuschreibung als Hexe unbedingt entgangen werden muss – ein Weg zurück gäbe es nicht. Diese Erfahrung der Separation gefährdete gleichzeitig die Einheit, indem durch die ständige Gefahr eine Subjektivität produziert wurde, die Widerständigkeit zumindest potenziell voraussetzte. Während die Vereinzelung und die Isolation die Herrschaft über die Bevölkerung verstärkte, hat die Einsamkeit die Widerständigkeit geschärft. Die einheitliche Gemeinschaft braucht vereinzelte Subjekte, für ihre Kontrolle und die Isolation als Ausschluss; die Einsamkeit bringt das Einsame als Gemeinsames mit sich, das sich in Kompliz*innenschaften, in prekären, vielheitlichen Gemeinschaften ausdrückt.
Einerseits war die Hexenverfolgung das Projekt, das gegen Abweichung von der herrschaftlichen Norm gerichtet war, andererseits wurden damit die Frauen im Allgemeinen zu einer separat zu beherrschenden Bevölkerungsgruppe. Gleichzeitig stellte sich die Hexenverfolgung in den Dienst eines kapitalistischen Bürgerkriegs gegen die Armen und somit zur Erhaltung der Herrschaftsverhältnisse. Der feministische «Widerspruch» könnte hier im marxistischen Jargon als Hauptwiderspruch mit intersektionaler Pointe lokalisiert werden. Das kann aber nicht die abschließende Aussage sein. Die Geschichte, die Kämpfe sind zu komplizieren, zu vervielfachen und zu verkleinern, um die einzelnen, gefährdeten Leben zu sehen.10
Es ist ein Leid der Einzelnen (oder Vereinzelten) in einer Geschichte der Vielen. Es gab die Gemeinschaften der Städte, wo sich die Frauen um gegenseitige Sorge kümmerten, sie jedoch umso stärker den polizeilichen Gefahren ausgesetzt waren. Gleichzeitig gab es die in klassischen Familienkonstellationen lebenden Frauen, die erst mit dem Moment des Verdachts aus diesem Gefüge herausbuchstabiert und einer Sichtbarkeit der Vereinzelung innerhalb des sonst eher homogen erkannten Familienkollektivs ausgesetzt wurden. Dieses Herauspicken implizierte nicht nur die möglichen direkten Folgen der Isolation und des Angeklagt-Werdens, sondern produzierte gleichzeitig eine Macht-Hierarchie innerhalb der Familie, die den Männern eine Waffe in die Hand gab, die Frauen zu unterdrücken. Durch die staatliche Polizeimacht gegenüber «Allen», der Hexenverfolgung hauptsächlich gegenüber Frauen, konnte der Mann eine neue Stellung einnehmen, jene des kleinen machtvollen Herrschers in einer Beziehung oder Familie, die die zugeschriebene Geschlechterteilung verstärkte.
Die gefährliche solitudo, wird einmal mehr als die undurchsichtige, düstere Natur, als die ungebändigten Mächte dargestellt, die einer pluralistischen Welt als die Einheit mit ihrem Außen gegenübersteht. Die zu organisierende «Menge» wird gegenüber dem absolut Bösartigen in konzeptionelle Holzschnitte gezwängt – das Helle gegen das Dunkle, göttlich gegen dämonisch, sesshaft gegen nomadisch, die Familie gegen die Vereinzelten.
Die Verfolgung der Häretiker*innen11 und die Herrschaftsinstrumente der Folter, Einsperrung und Vereinzelung12 waren Teil der Hexenverfolgung und führten, wie Foucault mit dem Begriff Biopolitik13 analysierte, zu einer Disziplinierung des Körpers und dazu, dass das «Leben machen»14 zum Thema der Regierung wird. Dies ist der europäische Teil der Geschichte, hinzu kommt die koloniale Erfahrung derselben Zeit, die mit dem Begriff Nekropolitik verhandelt wird15. Die Überschneidungen und das Ineinandergreifen von Kolonialität und deren Fabulationen16 einer anderen Welt, von Reichtum und Ausbeutung, von Vernichtung und Krieg, von der in Europa erlebten kleinen Eiszeit und Entbehrungen, vom 30-jährigen Krieg, von der Propaganda Luthers und der Bestseller Liber vagatorum und Hexenhammer ,von der damit einhergehenden Endzeit-Stimmung ergibt sich ein Gefüge, aus dem durch die Hexenverfolgung hindurch, die Moderne, die Industrialisierung, die Aufklärung und die Erschaffung einer Wand hervorging, hinter der sich die Welt des Mittelalters in eine dunkle Vorzeit verwandelte. Eine Wand, die für das Motiv der Hexe in der Teilung der Arbeitskräfte in Mann und Frau durchlässig bleibt. Aus ökonomisch-marxistischer Perspektive ging es bei der sogenannten «Übergangszeit zum Kapitalismus» darum, aus Körpern Arbeitskräfte zu schaffen und Subjekte herzustellen, die sich in den Dienst der Mehrwertproduktion stellen lassen. Aus politischer Sicht (und selbstverständlich ist diese nicht nachhaltig von der ökonomischen zu trennen) soll in der Geste der Vereinheitlichung, in der Trennung von Körper und Geist, im Vorrang der Vernunft eine Regierung installiert werden, die als oberste Instanz weder Herrschaft noch Gott akzeptiert, sondern nur die Vernunft und somit das Gesetz.
Die weltliche und evangelische Obrigkeit verurteilt Anna Göldi, ohne dabei die rechtlichen Grundlagen zu beachten. Das Gericht und seine Beschlüsse sind geheim, die Atteste und Zeugen werden nicht geprüft. Die Magd wird, nachdem sie für ihre Rechte einsteht, nachdem sie sich selbst ermächtigt, die Herrschaft nicht mehr über sich ergehen zu lassen, zum Spielball feudaler Korruption. Das Hexenparadigma eignet sich optimal für eine durch wenige verschwörerische Positionen aufgebaute Geschichte, um eine Person zu vereinzeln, sie nach und in der Vereinzelung anzugreifen, zuerst mundtot zu machen und später ganz aus der Welt zu schaffen. Der Fall Anna Göldi ist dafür insofern außergewöhnlich, als die Praxis, Frauen als Hexen zu diffamieren, zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gängig war und nur durchgezogen werden konnte, weil alle involvierten Personen auf Seiten der Anklage zu derselben verschworenen, korrupten Gruppe gehörten, die durch machtvolle Familienbande zusammenstanden. Kurz nach dem Prozess wurden Stimmen laut, dass es sich dabei um einen «Schwindel» handle. Für Anna Göldi kamen diese Einsichten zu spät. Jedoch zeigt ihr Fall auf, dass es nicht so sehr auf die juristischen Gegebenheiten ankommt, sondern vielmehr auf die Rechtssprechung. Diese Rechtsprechung ist die letzte Konsequenz nach der Anrufung als «Hexe» – ein Stigma, das bis heute viele Namen kennt und stets ein Teil einer strukturierten Gruppe ist. Eine Hexe ist fast immer eine Frau und immer eine Person, die von jemandem als ungemütlich, gefährlich oder im Weg stehend wahrgenommen und darum diffamiert und zur Seite geschafft wird. Eine Hexe ist keine Person; eine Hexe ist ein (Todes-)Urteil.
Haufrauisierung und Aufstand der Frauen
Die Polizei steht vor der Türe, Adelina hat sich etwas zu Schulden kommen lassen. Weil ihr Mann seit geraumer Zeit keine Arbeit findet, verkauft sie illegal Zigaretten auf der Straße. Damit bezahlt die Familie ihre kleine Wohnung für Eltern und Kind. Als nach einigen Versuchen nichts gepfändet werden kann, wird eine Freiheitsstrafe gegen Adelina verhängt. Doch bei der Verhaftung fällt der Polizei ihr Bauch auf: Sie ist schwanger und darf somit nicht eingesperrt werden. Während der Schwangerschaft und der Stillzeit ist Adelina sicher. Das Quartier jubelt, die Frauen schauen aus den Fenstern, die Kinder singen: Sie hat einen Bauch, sie hat einen Bauch. Sieben Kinder später verkauft Adelina immer noch die Zigaretten auf der Straße, ihr Mann findet keine Arbeit und muss sich wegen dem Stress mit den vielen Kindern bei seiner Mutter ausruhen. Adelina schmeißt den Haushalt, kümmert sich um die Nachkommen und verkauft die Zigaretten. Der Mann ist aber so gestresst, dass er keine weiteren Kinder mehr machen kann. Sie versucht es beim Arzt, hat die Idee mit einem Freund zu schlafen, lässt das aber wieder sein. Alles hilft nichts, ihre Schonfrist ist abgelaufen und sie muss ins Gefängnis. Dass dann das ganze Quartier erfolgreich für ihre Freilassung sammelt, bietet der Geschichte die Befreiung, die Adelina ermöglicht, wieder in ihren Haushalt zurückzukehren.
Zu einer anderen Zeit fährt die gelangweilte Anna mit ihrem Liebhaber und dem teuren Auto ihres Mannes durch die Po-Ebene. Dauernd fährt sie in andere Autos, beschwert sich über ihre Langeweile und sucht das Abenteuer, das sie, nachdem ihre Begleitung am Steuer einen Unfall baut, im Ferrari-Fahrer findet, mit dem sie durchbrennt.
Mara hat einen guten Verdienst, wird beschenkt, von ihren Freiern umworben und von der Nachbarsmutter verachtet. Der Nachbarsjunge in Ausbildung zum Geistlichen verliebt sich über den Balkon in sie, als sie im Bademantel ihre Pflanzen bestellt. Ein aufdringlicher Freier steht immer wieder vor der Türe, um seine Liebe zu gestehen, solange sie macht, was er will, sonst sieht er sich gezwungen wieder zu gehen, um dann wieder bettelnd vor der Türe zu stehen. Sie zu sehen, anzufassen, mit ihr Sex zu haben, ist ganz ihren Launen ausgesetzt, manchmal ist sie heiß, manchmal kalt, manchmal zärtlich, manchmal grob. Als der Nachbarsjunge wegen der Liebe zu ihr entscheidet, das Priesterstudium aufzugeben, wird sie als externe Hilfe zur Familienangelegenheit hinzugeholt, die sie auch zu lösen vermag: Er fährt zurück in die Priesterschule. Mara kehrt mit ihrem Freier zurück in ihr Zimmer und beschließt, nachdem sie sich ausgezogen hat, doch nicht mit ihm zu schlafen.
Der Film Ieri, Oggi, Domani von Vittorio De Sica aus 1963 zeichnet drei unterschiedliche Frauenbilder aus Italien der frühen 1960er Jahre nach. Sie entsprechen nicht dem Klischee-Bild der Mutter und Hausfrau, und ihre Einsamkeit taucht erst in einem zweiten Blick auf. Doch zeichnet sich die Hausfrau, wie Mariarosa Dalla Costa schreibt, nicht dadurch aus, dass sie im Haus arbeitet, sondern durch die Qualität ihrer Beziehungen, ihres Lebens, die durch Hausarbeit geschaffen wurde. Während für die Männer die industrielle Fabrik vorgesehen ist, ist es für die Frau der Haushalt. Ganz im Sinne des οἶκος schließt dies aber nicht nur die klischierte Arbeit im Haus ein, sondern die gesamte Verantwortung für die Kernfamilie. Adelinas Mann hat keine Anstellung und ist deshalb als Arbeitsloser in seiner zugeschriebenen Rolle machtlos der Arbeitslosigkeit ausgeliefert, während Adelina die Verantwortung wahrnimmt und das Notwendige tut, nämlich auf der Straße mit anderen Frauen Zigaretten zu verkaufen. Sie alleine trägt den Haushalt mit der geringen Einkunft, dem Risiko ihres illegalen Verkaufs und der Sorge um die Kinder. Darin genießt sie nicht den Schutz, den die Arbeiter-Kämpfe und die Gewerkschaften errungen haben, ihre Arbeit ist keine Lohnarbeit. Einzig die Sorge-Arbeit als Mutter, ihre rechtmäßige Arbeit, untersteht gewissen schützenswerten Rahmenbedingungen. Eine solche ist, dass sie während der Schwangerschaft und der Stillzeit nicht verhaftet werden kann. In diesem Sinne wirkt die Frau in einem in Arbeitsbegriffen apolitischen Raum und wird von den Arbeiter-Kämpfen, sowie den öffentlich ausgetragenen politischen Auseinandersetzungen ausgeschlossen. Sie ist frei, sich zu bewegen, und gleichzeitig eingesperrt in den erweiterten Raum des Haushalts. Ihr obliegt die Aufgabe der Reproduktion, der Versorgung der Familie und die Sorge im Allgemeinen. Eine Sorge, die einerseits besorgt und andererseits umsorgend ist. Beide Seiten laufen parallel zu ihrer Einsamkeit. Einsam in der Ausgeschlossenheit aus der öffentlichen, politischen, revolutionären Sphäre ist ihr Einschluss in den Haushalt der kleinen Kernfamilie eine Rasterung, die wiederum verhindert, dass sich die Frauen als eine Gegenöffentlichkeit zusammenschließen können. Diese Erfahrung der Einsamkeit wird zudem verstärkt, indem sie stets alleine gegen die Schwierigkeiten ankämpfen muss, sei es gegen den Hunger, die Polizei (im Falle von Adelina) oder für das Wohlergehen der Kinder. Der Mann kämpft in dieser Geschichte um seinen Freiraum, seine Ruhe, um eine neue Anstellung, um Lohnarbeit zu verrichten und möglicherweise in einem proletarischen Klassenkampf. Die Einsamkeit der Hausfrau liegt nicht in ihrem Allein-Sein, sondern in ihrer Abgetrenntheit, in ihrer vereinzelten Verantwortung und der Unmöglichkeit der kollektiven Kämpfe um ein besseres Leben.
Anna und Mara haben beide durch die sexuelle Abhängigkeit eine gewisse Freiheit in ihrem Tun. Beide zeichnen sich durch die unstete Gemütslage, ihre unvorhersehbare Nähe und ihren Abstand zu dem Mann, mit dem sie eine intime Beziehung führen. Bei Anna ist es der Liebhaber, der rasch uninteressant wird, und bei Mara die Zurückhaltung gegenüber dem verliebten Freier. Beide Beziehungen sind nicht auf eine Ehe oder Gründung einer Kleinfamilie aus, sondern zelebrieren die Position ihrer Abwesenheit. Darin ist die Frage von Familie und Haushalt omnipräsent in ihrer Abwesenheit. Sie werden in dieser Rolle wiederum auf sich selbst zurückgeworfen, entweder einen Familienrahmen zu haben oder alleine für sich zu sorgen. Somit findet sich die Einsamkeit keineswegs nur in der für die Familie verantwortlichen Frau, sondern in jeder Frau in der An- oder Abwesenheit dieses Lebensmodells. Aus diesem Kontext fanden die italienischen Frauenkämpfe einen ihrer Ausgangspunkte in der Praxis der autoriduzione, der kollektiven Verweigerung von zu hohem Mietzins – auch eine Verweigerung im Haushalten. Aus diesem Kontext entstanden auch die Streitschriften der italienischen Aktivistin und Theoretikerin Mariarosa Dalla Costa, die 1971 einen folgenreichen Text für den Feminismus schrieb. Inmitten der aktiven Jahre von potere operaio keimten um sie herum die Kämpfe der lotta femminista20 auf. Die kritischen Analysen Dalla Costas sind heute nicht mehr aus der feministischen Literatur wegzudenken. Als Stichwortgeberin sind diese Texte das Nadelöhr für marxistische, feministische Kritik, Feminisierung der Arbeit, Hausfrauisierung und Sorgestreik.21 Sie schreibt: «Diejenigen, die in den neuen Produktionszentren, eben in der Fabrik, arbeiteten, erhielten einen Lohn; die ausgeschlossen waren, erhielten keinen. Frauen, Kinder und Alte verloren ihre beschränkte Macht, die sie aufgrund der Abhängigkeit der Familie von ihrer Arbeit, die als gesellschaftlich und notwendig betrachtet wurde, besaßen.»22 Dalla Costa weiter: «Die Frau wurde andererseits im Haushalt isoliert und gezwungen, Arbeit auszuführen, die als ungelernte gilt: die Arbeit, die Arbeitskraft für die Produktion zu gebären, aufzuziehen, zu disziplinieren und zu bedienen. Ihre Rolle im Zyklus der gesellschaftlichen Produktion blieb unsichtbar, weil nur das Produkt ihrer Arbeit – der Arbeiter – sichtbar war. Sie selbst war dadurch an vorkapitalistische Arbeitsbedingungen gefesselt, und ihr wurde niemals ein Lohn ausbezahlt.»23 Eingesperrt in den Haushalt wurden aus den Frauen in erster Linie Hausfrauen. Doch wie Dalla Costa kritisch bemerkt, zeichnet sich die Hausfrau nicht als an eine bestimmte Tätigkeit gebundene Frau aus. «Wir gehen davon aus, daß alle Frauen Hausfrauen sind; sogar diejenigen, die außerhalb des Hauses arbeiten, bleiben Hausfrauen. Im Weltmaßstab wird die Lage der Frau, wo immer sie ist und zu welcher Klasse auch immer sie gehört, genau dadurch bestimmt, was typisch ist für die Hausarbeit, nämlich nicht die Anzahl der Stunden und die Art der Arbeit, sondern die Qualität des Lebens und die Qualität der Beziehungen, die durch die Hausarbeit geschaffen werden.»24 Eingeschlossen in den Haushalt, aus dem Politischen ausgeschlossen und im Klassenkampf in eine spätere, zukünftige Pendenz verschoben – das sind die Rahmenbedingungen, denen sich die Hausfrau gegenüber sieht. Sie ist entweder die Mutter und Ehefrau, während sie sich auf den Haushalt der kleinen Kernfamilie konzentriert oder eine «freie» Frau, die noch nicht Mutter oder Ehefrau ist. «Die Frau ist innerhalb dieser [Arbeiter]Familie die Sklavin eines Lohnsklaven und ihre Versklavung sichert die Sklaverei des von ihr abhängigen Mannes. Wie die Gewerkschaft schützt die Familie den Arbeiter, aber gewährleistet gleichzeitig, dass weder er noch sie jemals etwas anderes als Arbeiter sein werden. Und das ist der Grund, warum der Kampf der Frauen der Arbeiterklasse gegen die Familie entscheidend ist.»25 Der Primat der Arbeit und die Verweigerung der Arbeit in den Arbeiterkämpfen entwickelt sich parallel zum Kampf der Frauen gegen die Familie. Als erste Instanz, die jede Frau zu einer Hausfrau macht, gilt es, diese Zuschreibung und strukturelle Machtbeziehung zu kappen. Doch wie kann die Familie beziehungsweise die Sorge-Arbeit verweigert und bestreikt werden? Der Streik unterbricht, er stellt die Arbeit zur Disposition, zumindest für einen kurzen Moment. Doch wie Dalla Costa schreibt, war ein General-Streik niemals ein Streik im Generellen, weil die Hausarbeit niemals in derselben Form bestreikt wird – die Folgen dafür wären tödlich. Auch wenn die Arbeit noch so sehr ausgesetzt wird, die Subsistenzarbeit lässt sich nicht einfach loswerden.26 Muss somit die Verweigerung der Arbeit als solche in den Wogen der Gezeiten versinken? Diese Frage impliziert mehrere Ebenen. Einerseits im großen Paradigma der Arbeit, wonach nur wer arbeitet auch berechtigt ist, den Lohn der Arbeit zu erhalten – nur wer arbeitet hat die grundlegenden Rechte, sei dies durch die Arbeit des Arbeiters oder die Sorge-Arbeit einer dem Arbeiter zugehörigen Hausfrau. Andererseits ist die kollektive Verweigerung der Arbeit grundsätzlich der kollektiven Anstellungsarbeit vorbehalten. Die Sorge-Arbeit hat durch ihre zerstreute Form nicht dieselben Möglichkeiten der Verweigerung. «Die Herausforderung der Frauenbewegung liegt darin, Kampfformen zu finden, die, während sie die Frau vom Haus befreien, auf der einen Seite eine doppelte Knechtschaft der Frau vermeiden und auf der anderen Seite eine weitere Stufe der Kontrolle und Disziplinierung durch das Kapital verhindern.»27 Denn «[d]er autonome Kampf kehrt die Frage um; es geht nicht mehr darum: ‹werden die Frauen sich vereinigen zur Unterstützung der Männer?› sondern darum: ‹werden die Männer sich vereinigen zur Unterstützung der Frauen?›»28 Und nur schon damit, dass sie nicht ständig versuchen, für die Frauen zu reden und ihnen die Welt zu erklären, die Position der Frauen an die des arbeitenden Mannes zu ketten. «Die Männer sind vielzusehr ihrer Machtbeziehungen zu den Frauen verhaftet, und deswegen können nur die Frauen eine Bestimmung von sich selbst geben und mit dem Kampf beginnen.»29 Eine Konsequenz, die feministische intersektionale Analysen nötig machen, obwohl die einzelnen Kämpfe als strategische wichtig bleiben, solange ein stetige Öffnung möglich ist.30 Es hängt an Erfahrungen, die mit den Füßen und dem Boden darunter beginnen, an Verletzlichkeit, prekären Körpern und Sorge. Die Hausfrauisierung hat eine spezifische Form der Vereinzelung der Frauen mit sich gebracht, die wiederum, durch die gemeinsame Erfahrung der Einsamkeit, einen Boden für Auseinandersetzungen schuf. Mit der Einsamkeit wird ein Kampf ermöglicht, der in der Sphäre des Haushalts beginnt. Dieser tritt aus den Grenzen der geschlossenen Sphäre hinaus, bricht diese auf und wird zu einer Kritik der gesellschaftlichen Macht-Verhältnisse.
Die Verweigerung der (Sorge-)Arbeit
Seit den Kämpfen der zweiten feministischen Welle, den Arbeiter-Aufständen und dem Angriff auf das Konzept der Hausfrau in der Kernfamilie ist einiges passiert. Wie die spanischen Sorge-Aktivist*innen Precarias a la Deriva feststellen, «hat einzig das Kapital die Sorgekrise ernst genommen und in ihr ein neues Terrain der Verwertung gefunden.»31 Die feminisierte Arbeit, die Sorge um sich und andere wird zunehmend in die Logik des Profits eingegliedert. Was davor noch als unsichtbare Exteriorität funktionierte, wird nun mit der Mechanik des Mehrwerts und des Marktes gleichgeschaltet. Damit lässt sich die «Sorge-Krise»32 benennen, die Zunahme der Sorge-Bedürfnisse und gleichzeitige Schmälerung der Sorgenden. Die Arbeit der Frauen war immer Teil der kapitalistischen Mehrwertproduktion, jedoch als ein Backup, das mit Tiefstlöhnen nicht als vollwertige Arbeit betrachtet wurde, da die Sorge-Arbeit nicht an die Stelle der Lohnarbeit trat, sondern zu ihr dazu kam. Gemäss den genannten Quellen der Precarias machte dabei um die Jahrtausendwende die unbezahlte Sorge-Arbeit fast zwei Drittel der gesamten Arbeit Spaniens aus.33 Die Sorge wird vermarktet und verwertet, die Profite werden maximiert, während der Lohn dafür weiterhin nicht oder kaum bezahlt wird. Die Sorge-Krise weist aber auch auf eine grundlegendere Größe, die Krankheit. Susan Sonntag hat dies treffend formuliert: «Krankheit ist die Nachtseite des Lebens, eine eher lästige Staatsbürgerschaft. Jeder, der geboren wird, besitzt zwei Staatsbürgerschaften, eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken. Und wenn wir alle es auch vorziehen, nur den guten Ruf zu benutzen, früher oder später ist doch jeder von uns gezwungen, wenigstens eine Weile, sich als Bürger jenes anderen Ortes auszuweisen.»34 Jeder Körper stirbt und jeder Mensch wird in irgendeiner Form krank. Mit der Arbeit als Paradigma wird eine klare Linie gezogen, zwischen jenen, die arbeiten können, und jenen, die krank sind. Es verschleiert damit die Abhängigkeit, in der wir alle sind, nicht nur vom Moment der Pathologie an, sondern ab dann, wenn wir auf die Welt gebracht werden (und in den Monaten davor). Susan Sonntag greift mit der «Staatsbürgerschaft im Reich der Kranken» einem Konzept der Precarias vor, die diese Unterscheidung in dem spanischen Neologismus «Cuidadanía»35 , die Sorgegemeinschaft, gegenüber der «Ciudadanía», der Staatsbürgerschaft, zusammenfasst36. Die Zugehörigkeit zu jener Gemeinschaft, umfasst, wenn sie denn als Gemeinschaft aufgefasst wird, wie auch die Staatsbürgerschaft gewisse Rituale der Aufnahme in diese Gemeinschaft. Wer sind die, um die Sorge getragen wird, wer sind die Sorgenden? In Anlehnung an die Arbeiterbefragung von Marx in England und später an jene der Operaisten in Italien fragten Precarias in langen Spaziergängen37 durch Madrid Sorge-Arbeiter*innen «Was ist dein Streik?».38 Damit tauchen neben den Gedanken zu Zugehörigkeit genauso jene der Vereinzelung, der Aussperrung, der Ausbeutung und der Streiks auf. Mit dem Begriff «Cuidadanía» gehen die Precarias dabei aber über die dichotome Figur der geschlossenen Zugehörigkeit hinaus und begeben sich mitten in die Vielheit der Sorgebeziehungen, welche sich nicht durch Grenzen und Zugang auszeichnen, sondern durch ein relationales Geflecht der Sorge.39 Dalla Costas Überlegungen zu der Frage, wie Sorge-Arbeit bestreikt werden könnte, erhalten 40 Jahre später einen neuen Kontext in der gegenwärtigen Produktionsweise, in der die Vereinzelung auf einen Höhepunkt getrieben wurde. Wie sieht die einzelne Verweigerung aus, wie wird sie ein Teil von transnationalen Affektketten? Die einzelne Verweigerung ist niemals eine absolut Einzelne, sondern immer eine von Vielen, sie bleibt aber in ihrem Ausdruck singulär, in ihrer eigenen Zeitlichkeit stets eine spezifische, situierte Verweigerung, eine Verweigerung, die innerhalb einer Sorgegemeinschaft nicht zum Abbruch der Subsistenzarbeit führt, sondern zu einer Intervention im Relationalen. «Der Streik ist immer eine Unterbrechung und eine Sichtbarmachung; und die Sorge ist jene durchgehende und unsichtbare Linie, deren Unterbrechung verheerend wäre.»40 Die Sorge hört nicht beim Streik auf, im Gegenteil, sie ist Teil des Streiks, einander Streiks zu ermöglichen ist genauso Subsistenz- oder Sorge-Arbeit. Es ist jene Frage, die bereits die Vereinzelung der Arbeit in sich trägt, der insbesondere die Sorge-Arbeiter*innen ausgesetzt sind. Wie die Arbeit bestreiken, wenn die Macht der Vereinzelung einzelne Arbeiter*innen-Subjekte produziert? Die Sorge als Ökologie zu begreifen, eröffnet transversale Praxen des Alltags.41 Nicht die Aufhebung, die Lösung, die Freiheit sind das Ziel, sondern die ewige Wiederkehr eines Auswegs. Denn wir sind niemals verlassen von der Welt, nicht nur weil wir Teil der Welt sind, sondern, weil es keine Essenz davon geben kann, was oder wer wir sind. Wir sind immer schon Vieles, wir sind immer schon unser Stuhl, auf dem wir sitzen, die Luft, die wir atmen, die Sprache, in der wir Bilder denken. Wir sind immer schon «Prekäre, Sorgende und Umsorgte».42
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