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Do care, make trouble!

24. Oktober 2017, 5911 Zeichen

«Es geht beim Idioten um situative Instinkte, nicht um Dummheit. Der Dummkopf kriegt nichts mit, der Idiot alles, nur eben auf absurde Weise» – Zoran Terzić

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Der deutsche Herbst 1977 zeigt sich als Auftakt einer nachhaltigen Krise des linken, d.h. insbesondere des marxistischen Denkens. Regelmäßig wiederkehrende Ausbrüche versuchen seither mit halbherzig aufklärerischem Gestus, die «soziale Frage» bzw. «die soziale Gerechtigkeit» auf die politische Tagesordnung zurückzusetzen, und scheitern, trotz grotesker Vereinfachungen ihrerseits, am Zeitalter des Idioten, das mit narzisstischen Anrufungen jede noch so populare Parole zu unterbieten vermag.

 

Die Budapester Schule um die Philosophin Agnes Heller bemühte sich ab den 60er Jahren um eine Renaissance des Marxismus, was aufgrund von Zensur und der Gefahr der Verfolgung durch die Partei richtigerweise als sozialistische Kritik am «Realsozialismus» bezeichnet werden kann, oder besser noch: als marxistische Marxismuskritik. Indem sie bis anhin nur erschwert zugängliche Marx-Texte wie die Pariser Manuskripte und die Grundrisse den bekannteren Schriften zur Seite stellt, entwickelte sie eine umfassende marxsche Theorie der Bedürfnisse. Bedürfnisse – ein erstaunlich wenig ausgearbeitetes Konzept von Marx – steht im Zentrum der Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise. Es ist die Frage nach der Subsistenz, welche gegenüber des bürgerlichen Systems der Bedürfnisse ins Spiel gebracht wird, dessen Arbeitsteilung, wie schon Hegel ratlos eingestehen musste, zwingend auch wütende Arme hervorbringt.

 

Heller unterscheidet zuletzt radikale Bedürfnisse von manipulierten Bedürfnissen und der Bedürfnisdiktatur. Letztere bezeichnet die konkrete Funktionsweise des Realsozialismus in der Sowjetunion, ein Problem der Übergangsphase: würde im Kommunismus die Arbeit zum ersten Bedürfnis der Menschen werden, so musste es im sozialistischen Übergang dahin der polizeiliche Zwang richten. Eine ziemlich beschränkte Marx-Lektüre, wie die Budapester Schule kritisierte.

 

Die manipulierten Bedürfnisse bezeichnen diejenigen, welche im Kapitalismus entstehen. Ostblock-Enzyklopädien erklären wie folgt:
«Während die Bedürfnisbefriedigung in der DDR der weiteren Herausbildung der sozialistischen Lebensweise und der Festigung der sozialistischen Menschengemeinschaft dient, also der Entfaltung der Persönlichkeit, werden in Westdeutschland die Bedürfnisse der Menschen im Sinne der Erhaltung des kapitalistischen Systems manipuliert, der Mensch wird Objekt des Profits, antihumanistische, militaristische Tendenzen und ein schädlicher Prestigekonsum deformieren die Persönlichkeit».2
Von diesem Holzschnitt dann doch meilenweit entfernt, hält Heller fest: der Sozialismus müsste demokratisch sein und grundsätzlich alle Bedürfnisse befriedigen, mit Ausnahme von dreien: Die Eigentumsanhäufung, Machtsucht und der Narzissmus. Diese sind «rein quantitativ und deshalb unendlich reproduzierbar», sie verstossen gegen den kategorischen Imperativ in dem darin «der eine Mensch dem anderen zum bloßen Mittel wird». Sie sind nicht verallgemeinerbar, und würden sie befriedigt, so wäre einem Großteil der Menschheit die Befriedigung ihrer Bedürfnisse unmöglich. So gesehen, war der Occupy-Slogan der 99% nicht der Allerdümmste.

 

Radikale Bedürfnisse sind stattdessen revolutionäre Bedürfnisse. Sie beinhalten die sog. Grundbedürfnisse und gehen einher mit Klassenbewusstsein. Auch wenn immer wieder von «natürlichen Bedürfnissen» (wie z.B. dem Hunger) gesprochen wird, führt dies in die Irre: Subsistenz ist ein Begriff der Notwendigkeit, ohne «natürlich» sein zu müssen. Radikale Bedürfnisse orientieren sich am Entwicklungs-Stand der Produktionsweise. Neue Lebensmittel, Materialien oder Kenntnisse werden gebraucht, andere werden überholt. Fressen alleine macht noch kein Leben.

 

Die spezifische, auf der anderen Seite des eisernen Vorhangs vorherrschende Bedürfnisstruktur benennt Michel Foucault versuchsweise mit dem Begriff der Biopolitik. An die medizinhistorische Arbeit Georges Canguilhems anschliessend, deckt er auf, wie in der Konstituierung von «gesunden» Subjekten Begriffe der Pathologie oder der Sexualität insbesondere über das Überwachen von Abweichungen marxistisch gesagt «Bedürfnisse manipulieren» oder in Foucaults Duktus: Machtbeziehungen bilden, Gouvernementalität konstituieren.

 

Fragt Foucault in solchen Wahrheitsregimen nach dem Ungehorsam, führt ihn das naheliegenderweise zu der Ethik. Da er die Vorstellung allgemeingültiger Imperative dekonstruiert – die eine «richtige» Lebensform gibt es nicht – und Gemeinschaftsbegriffe meidet, setzt er im Singulären an und untersucht gar nicht weitab von Heidegger die Sorge um sich, der er gegenüber der Sorge um andere den Vorrang einräumt. Darin das Plurale zu finden, dürfte im Zeitalter des idiotischen Selbstmanagements, welches Sorge einzig als Schwäche kennt, die dringlichste Aufgabe sein.

 

Anders gesagt: es geht darum, die Schattenseite der Cura, lateinisch für Sorge, wiederzufinden. Die gramvollen, rächenden Sorgen am Eingang des Orkus, welche der Policey oder dem Kurator das Leben schwer machen, erweitern die Sorge um eine dunkle Bedeutungsebene. Die Sorge, welche ins Englische entweder mit Care oder mit Trouble übersetzt werden kann, braucht ihre zweite Bedeutung als wilde, ungezähmte3 Sorge unbedingt. Die Cura hat ohne die Turba, die turbulente Masse, das Getümmel oder den Pöbel keinen demokratischen Zweck. Die Cura um die Turba aber betrifft die Subsistenz. Die wilde Sorge bewegt sich im Trüben wie ein Fisch im Wasser: Ohne Götter und Herren.

Weitere Essays
1

Terzić, Zoran: «Die Renaissance des Idioten», in: geschichtedergegenwart.ch 22.10.2017

2

Wörterbuch der Ökonomie Sozialismus, Dietz Ostberlin 1969

3

Damit sei angespielt auf das Konzept der fierce care, welches von Manolo Callahan und Annie Paradise zwischen Zapatistas in Oaxaca und PoC-Communities in Stockton CA ausgearbeitet wurde. (coming up soon on transversal.at in: Ökologien der Sorge)