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Die Kunst, schöner zu politisieren

01. Januar 2017, 12070 Zeichen

Viel wurde diskutiert in den vergangenen Wochen über Links und Rechts, über komplizierte Überlagerungen von Wahlanteilen verschiedener Schichten, über Arbeiter*innen, Klassenkampf und andere wichtigen Eckpunkte der sozialen Realität, die von «gutgekleideten» Menschen vom Schlage eines Franz Jaeger (z.B. ab 25:40) als veraltet und gefährlich betrachtet werden.

Dass ein Fascho als Präsident der «Weltmacht» USA auch einigermassen gefährlich sein könnte, muss man auch nicht wissen, wenn man seit Fritz von Hayeks Schriften gegen allzu viel Theorie nichts gescheites mehr gelesen hat. Es ist schädlich für den Markt, wenn die Leute zu viel denken und wissen. Und dieser Markt hat Freudengümpe gemacht, als Demokratin Clinton nicht gewählt wurde.

Viel wurde geschrieben, viel Eribon wurde geschrieben. Dessen Buch eignet sich sicherlich hervorragend, um aufzuzeigen, welcher Art die Unterlassungssünden linker (sozialdemokratischer) Politik in den vergangenen Dekaden waren. Endlich, könnte man sagen, meldete sich eine profilierte Stimme der Soziologie zu Wort und macht auf verstehbare Weise deutlich, dass da so etwas wie eine Arbeiter*innenklasse ist, die nicht gerade im Fokus der Politik steht, die es dringendst mehr einzubeziehen gälte, wohlgemerkt nicht nur mit repräsentativen Floskeln.

 

Holy Crap und etwas Psychoanalyse

Die Schrift birgt jedoch auch einige Gefahren: Zum einen ist der Text autobiografisch, was die Lektüre vereinfacht. Eribon löst dies aber sehr elegant. Das Wissen eines hochspannenden Lebens theoretischer Arbeit fliesst nahezu unbemerkt in den Text ein; ein essayistisches Verfahren, angereichert mit den persönlichen Anekdoten, die gleichermassen Stärke der Schrift, wie auch Falle der Rezeption darstellen.

Die Gefahr liegt darin, Eribons Rückkehr ins elterliche Milieu als eine sozialistische Variante der biblischen Geschichte des verlorenen Sohns zu rezipieren. Dabei würde unterschlagen, dass Eribon keineswegs verloren war, weder politisch, noch aktivistisch, noch sonst wie – vielleicht war er dies als Sohn, aber dann aus eigenen, verständlichen Stücken. Seine Rückkehr ist weder als Kapitulation noch als Unterwerfung unter die Blutsbande oder kulturellen Strukturen der Arbeiter*innenklasse zu lesen, sondern schlicht als Analyse der eigenen Vergangenheit. Eribons Herkunft ist vermutlich doch eher in der Philosophie Foucaults als im «Nein» und Namen des Vaters zu suchen.

 

Antiintellektualismus, schon wieder?

Zum anderen besteht die Gefahr darin, die Schrift in einer derartigen biblisch-kathartischen Aufnahme als Affirmation einer linken Variante des Antiintellektualismus zu verstehen. Rechts besteht dieser im Schreien von «Political Correctness», «Establishment» und «Lügenpresse», links liegt das Problem eher darin, dass die eigenen Theorien nicht gelesen werden, weil es einfacher ist, diffuse Gefühle von Realität und Materialität der Kämpfe wiederzukauen, statt – wie Eribon – Analyse zu betreiben, Theorie zu schreiben.

Und selbstverständlich sind die Klassenkämpfe nicht mehr die selben wie anno 1848, auch wenn man gewisse Lehren aus Marx‘ Schriften noch immer ziehen kann, gälte es zum Beispiel aber, dessen doch sehr bürgerliches Bashing des Lumpenproletariats abzuhaken. Das heisst natürlich nicht, dass keine Klassen- und Arbeitskämpfe mehr notwendig wären. Im Gegenteil.

Hier liegt der dritte zu beachtende Effekt von Eribon: die Ignoranz, die er bei sich selbst und dem intellektuellen Grossstadtmilieu gegenüber der Arbeiterklasse ausserhalb der Metropole feststellt, gibt es in der umgekehrten Richtung genauso stark. Eribon versöhnt in sich den proletarischen Habitus mit dem universitären Milieu seiner Wahl und sein Aufruf geht in dieselbe Richtung.

Die Kämpfe unterscheiden sich vielleicht manchmal, sollten aber gemeinsam angegangen werden. Die Lektion, dass es immer auch anders geartete berechtigte Kämpfe gibt, gilt für absolut alle. Die Ignoranz von intellektueller Seite gegenüber der Arbeiter*innenklasse unterscheidet sich nur unwesentlich von derjenigen zweiterer gegenüber unzähligen anderen berechtigten Anliegen. Gegeneinander läuft aber sicherlich gar nichts.

 

Die Dialektik ist tot, es lebe die Klarheit

Die Veränderungen der Umstände gilt es besonders zu beachten. Die Arbeitskämpfe wurden vermehrt zu Arbeitslosenkämpfen, das klassische Proletariat wandelte sich in ein Prekariat und der kalte Krieg ging über in die globalisierte Weltwirtschaft – die viel zu vereinfachende Dialektik des 20. Jahrhunderts greift nicht mehr. Auch die lateinamerikanische progressive Welle der letzten Jahrzehnte kann nicht als alleiniger Orientierungspunkt einer sozialen Gegenglobalisierung verkannt werden.

Die Dialektik ist tot, sie war zu einfach. Wiederum andere Dinge sind aber durchaus «einfach», wie der Theoretiker Raul Zelik unlängst auf seiner Facebookseite insistierte, weil: «Die entscheidende Frage lautet, ob sich Linke in Regierungen als Teil herrschender Zustände oder als Teil von Gegenmacht begreifen und verhalten».

Geht es auf der einen Seite darum, die Logik der Kämpfe nicht dialektisch zu vereinfachen, so geht es doch auch um Haltung. Haben sich die Umstände erschwert (was historisch eine hochgradig pathetische Analyse wäre, schliesslich waren «die Umstände» niemals einfach), so bedeutet das wohl, dass Probleme und Begriffe, Rahmen und Inhalte in Veränderung begriffen sind, und dies (als produktiver Ausdruck der Postmoderne) auch so verstanden wird. Eribons Rückkehr darf nicht als marxistischer Konservativismus betrachtet werden, sondern als Steilpass, das Progressive um soziologische Eckpunkte zu ergänzen.

Man kann schliesslich die kritische Haltung in ebenso einfachen wie klaren Forderungen manifestieren. Fordern muss man, was am meisten fehlt: Mehr Bildung fürs Bildungsbürger*innentum (und sowieso für alle), mehr Arbeitsplätze für die Arbeiter*innenklasse (und sowieso für alle), und für die tatsächliche Elite (Donald, Christoph, etc.) gewisse gesunde Einschränkungen, mit ihrem Einfluss (monetär und im Benehmen) die Demokratien zu sabotieren.

 

Schöner denken, minchia!

Dies sind allerdings ästhetische Forderungen: So müsste bei den Arbeitskämpfen als allerwichtigste Frage im Raum stehen, welcher Art die geforderte Arbeit wäre. «Berufsstolz», «Freude am Job», «Herausforderung» wären eigentlich keine Floskeln, werden aber zu zynischen Beschreibungen in Lebensläufen, je prekärer die Arbeitsumstände sind.

Auf der Walz einen Dachstock zu zimmern, ist interessanter als im Akkord Gipsplatten festzutackern (oder zu schleifen!). Die Kunst, einen geilen Espresso zu kreieren jedenfalls schöner, als auf Abruf mit Riesenstress Big-Tasty’s zusammenzupampen, und Bauern, das wussten schon Marx und Engels, ist gesünder als der proletarische Fabrikalltag (und die Fabriknacht erst recht). Arbeitskämpfe, welche die ästhetische Ebene der (Kritik der) Arbeit ignorieren, haben zu wenig mit dem Leben zu tun, und daher zu wenig mit uns Allen.

Bei der Bildung ist das gar nicht anders. Auch diese kann sich nicht alleine an wirtschaftlichen Kategorien orientieren, noch offensichtlicher als bei der Arbeit wird dabei klar, dass solch ein reduktionistischer Rahmen dieser schadet: Bologna ist für geisteswissenschaftliche Belange eine Katastrophe apokalyptischen Ausmasses. Philosophische Qualität beispielsweise lässt sich weder zeitlich noch im Umfang berechnen, und das sollte man auch gar nicht versuchen. Manche Aphorismen oder Gedichte sind gehaltvoller und brauchen längere (Denk-)Prozesse als die fettesten Wälzer. Das Gegenteil gibt es natürlich auch. Effizient ist es, all diese Räume zu ermöglichen.

 

«Nutzen», «Wert» und deine Mutter

Der neoliberale Stichwortgeber Hayek wollte gerade dies nicht. War es eine linke materialistische Idee, dass das ökonomische Sein der Menschen ihr Bewusstsein beeinflusst, so wird diese Formel von den Neoliberalisten ihrer emanzipatorischen Pointe beraubt und zur Komplizin einer Diktatur des Marktes, die zynischerweise bis heute von Freund*innen neoliberaler Ideologie «Freiheit» genannt wird.

Das marxsche emanzipatorische Projekt, das aus dem genannten Sachverhalt Gründe zieht, die ausbeuterischen Produktionsverhältnisse zu verändern, wird von ebendiesen schliesslich mit einem argumentativen Primarschultrick als totalitär hingestellt: «Mir händ gar nüt gmacht mfall, di Andere sind’s xi».

«Spezifische Kenntnisse» und «praktisches Wissen» in allen Ehren: Fragt Hayek 1945 nach dem Use of Knowledge in Society, ist sein Fehler nicht, alltäglichere nicht-universitäre Kenntnisse aufgrund derer Marktrelevanz zu rehabilitieren, wie er es vermeinte zu tun, sondern die grundlegende und ideologische Verkürzung, die im Wort «Use» die Bedeutungen von Wert, Nützlichkeit, Sinn, Verwertung und Notwendigkeit zusammenzieht.

Es gibt unzählige Wissensformen, die dieser monströsen Vereinfachung entgehen. Ein weitreichendes Beispiel wäre soziales Sorge-Wissen, also wenig überspitzt gesagt, die in der Geschichte von Frauen ausgeübte unbezahlte, wenig beachtete Arbeit, die den Psychospielplatz rüstiger Herren, den sich Hayek und Co. unter der Vokabel «Markt» herbeifabulierten, erst überhaupt möglich machte und dies immer noch tut.

 

Würde, gemeinsam.

Auf diese Weise aufs Leben hingewiesen, das an der Börse weder geboren noch aufgezogen noch umsorgt wird, dessen Wert, Sinn, Nützlichkeiten und Notwendigkeiten nicht wirklich dem «Wunder» der Preisbildung entsprechen, liegt der Schluss nahe: Die Gesellschaft muss philosophischer, und die Politik des Lebens als Poetik begriffen werden. Sollen Momos graue Männer statt unserer Zeit probieren, schöne Gedanken zu akkumulieren.

Es geht einzig um Würde. Das ist eines der wenigen gemeinsamen Stichwörter vom Arabischen Frühling, 15-M und Occupy. Würde betrifft ökonomische, politische und eben ästhetische Fragen. Und sie ist wohl das beste Wort, um das zu beschreiben, was Eribon bei seiner Rückkehr vermisste: Wo einst ein (kommunistisches) gemeinsames Gefühl und Projekt war, haben Individualismus, Prekarisierung und verdammt viel Ignoranz die Würde torpediert, die eigentlich in mindestens diesem Ausmass ein Menschenrecht sein sollte.

Eine stetige Rechtsradikalisierung tat diskursiv den Rest, und hinterlässt eine aller Ideale beraubte Masse, die ausser dem Allernächsten gerade noch die Schadenfreude und den Zynismus liebt.

 

Frohe Sonnenwende!

Gemeinsam angehen könnte mensch stattdessen das würdevolle Projekt, nach einem schöneren Leben zu fragen, nach schönerer Arbeit, denn auf dieser Ebene können sich «Bildung» und «Praxis», «Klassen» und «Einzelne», Sorge-Arbeit und «Produktion» die Hand geben. Philosophisch ist diese Perspektive, da sie über das Gärtchen des sesshaften Eigenheims hinausblickt.

So die Rede Zarathustras: «Eure schlechte Liebe zu euch selber macht euch aus der Einsamkeit ein Gefängnis. Die Ferneren sind es, welche eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu fünfen miteinander seid, muß immer ein sechster sterben. […] Die Zukunft und das Fernste sei dir Ursache deines Heute […] zur Nächstenliebe rate ich euch nicht: ich rate euch zur Fernsten-Liebe».

Gratis zum römischen Wintersonnenwendenfest, zu dem traditionell wenigstens einmal jährlich statt den üblichen Abschätzigkeiten mit verklärten Mienen über die caritas nachgedacht wird, und dies auch noch Besinnung und Spiritualität genannt wird, hier noch ganz ohne Latein eine mögliche Repolitisierung der Thematik in den Worten BertBrechts: «Wenn keine Gewalt mehr herrscht, ist keine Hilfe mehr nötig. / Also sollt ihr nicht Hilfe verlangen, sondern die Gewalt abschaffen. / Hilfe und Gewalt geben ein Ganzes / Und das Ganze muss verändert werden».

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