«Die Identität ist nicht essentiell, wir alle sind Vorübergehende»
Von Achille Mbembe, publiziert im Januar 2017 bei Le Monde.
Es ist noch nicht lange her, da man sich vormachte, die Grenze zwischen hier und anderswo mehr oder weniger genau abgrenzen zu können. Heutzutage ist eine solche Übung zwecklos. Die Grenze tendiert nunmehr dazu, sich zu lockern, wenn nicht sich ganz aufzulösen. Unweigerlich. Tatsächlich gab es trotz der Nationalismen nie nur eine einzige Welt. Ob man es will oder nicht, wir sind alle Rechtsträger*innen. Die Zeit ist also nie zuträglicher gewesen, um die Parameter dessen zu ändern, was uns in diesem globalen Zeitalter gemeinsam ist.
Die Menschheit hat die Tatsache gemeinsam, dass es keine Welt, Gesellschaft oder Gemeinschaft gibt, deren Grundlage ihren Ursprung nicht in der einen oder anderen Idee von Schuld findet. Abgesehen von der Behauptung von etwas Göttlichem, zeugen wir uns selbst nicht. Es sind andere als wir, die uns, tagtäglich, das Leben ermöglichen. Wir verdanken ihnen nicht nur unsere Geburt, sondern auch die Sprache, die grundlegenden Institutionen, diverses immatrielles Erbe und Reichtümer, die nicht berechenbar und nicht erstattungsfähig sind, von denen wir nicht die Schöpfer*innen sind.
Diese aus der Schuld entstandene Form bringt uns in die Verantwortung, denen die nach uns kommen, eine andere mögliche Welt zu hinterlassen. Sie ist offensichtlich von der enteignenden Schuld verschieden, welche unter ihrer Handelsform heute die Bedingungen der Reproduktion, aber auch das Leben von Millionen Frauen und Männern unterwirft.
Darüber hinaus ist die Eigenheit der Menschheit die Tatsache, dass wir aufgerufen sind, einander ausgesetzt und nicht in Kulturen oder Identitäten eingesperrt zu leben. Aber von dieser Art ist auch der Weg, den unsere Geschichte mit den anderen Spezies auf der Erde nunmehr aufnimmt. Einander ausgesetzt zu leben, bedeutet, zu erkennen, dass ein Teil dessen, was wir geworden sind, seinen Ursprung findet in dem, was die Philosophin Judith Butler unsere Verwundbarkeit nennt. Das muss wahrgenommen und als Aufforderung verstanden werden, Solidaritäten zu weben statt Feindschaften zu schmieden.
In Wahrheit ist das, was man die Identität nennt, nicht essentiell. Wir sind alle Vorübergehende. So entsteht langsam ein neues weltweites Bewusstsein, dass die Realität einer objektiven Schicksalsgemeinschaft den Sieg über den Kult der Differenz davontragen sollte.
Obskure und perverse Kräfte
Leider ist es das spezifische Merkmal des neoliberalen Moments, alle möglichen obskuren und perversen Kräfte freizusetzen, die man mehr oder weniger gut gelungen zähmte, zumindest aber in einer nicht allzu fernen Vergangenheit in den Bereich der Tabus verbannte. Das ist der Fall beim Rassismus, aber auch bei allen autoritären Trieben, von denen wiederholt werden muss, dass sie den liberalen Demokratien nicht verschont bleiben.
Es ist nicht ausreichend hervorgehoben, aber an der eigentlichen Wurzel des Rassismus in den Gesellschaften, die gefangen in den Netzen des Neoliberalimus sind, findet sich die Schwierigkeit, genießen zu können. So sind die rassistischen Triebe zu Trieben libidinösen Typs geworden.
Um zu funktionieren, benötigt der Rassismus die Fiktion, nach der es reine Körper, reine Kulturen und reines Blut gäbe. Nun aber existiert kein menschlicher Körper, der rein und durchsichtig wäre. In Bezug auf Körper, Religion, Kultur oder Blut existiert das Weiße schlichtweg nicht. Alle Körper sind grau, ocker und dunkel. Es ist das, was sie zu lebendigen und menschlichen Körpern macht und mit diesem porösen Titel öffnet für das, was sie lebendig macht, auf das Fleischliche der Welt.
Um der Demokratie ein neue Chance zu geben, muss man auf die eine oder andere Weise dem Prozess der Finanzialisierung der Existenz Grenzen setzen und die neuen Kriegsformen vereiteln, ob es sich um Angriffskriege, Besatzungen oder Plünderungen in unserer Zeit handelt. Zum anderen muss man die Bedingungen der Repräsentation neu-erfinden, so dass alle Stimmen gehört werden und tatsächlich zählen. Wenn das Fundament der Demokratie das Prinzip der Gleichheit ist, dann müssen wir also erkennen, dass ein gewisses Maß an Ungleichheit die Idee der Demokratie in Gefahr bringt.
Im Übrigen ist unsere Welt eine endliche Welt, die eingeschränkt und deshalb nicht unendlich erweiterbar ist. Die Menschen sind weder die alleinigen Bewohner*innen noch die alleinigen Rechteinhaber*innen. Sie können folglich auf dieser Welt keine unbegrenzte Souveränität ausüben. Aber anders kann die wahre Demokratie nicht sein, denn als eine der Lebenden in ihrem Gemeinsamen.
Diese Demokratie der Lebenden bezeichnet eine Vertiefung nicht im universellen Sinn, sondern «im Gemeinsamen» und damit in einem Pakt der Sorge – der Sorge um den Planeten, die allen Bewohnenden der Erde, Menschen und anderen als Menschen Sorge entgegenbringt.
Auf der anderen Seite lässt das Projekt des «im Gemeinsamen» dem Vorübergehenden Platz. Der*die Vorübergehende erwidert schließlich das, was unseren gemeinsamen Zustand darstellt, den des Sterblichen, auf dem Weg in eine per Definition offene Zukunft. Im Vorübergehen zu sein, das ist schließlich der menschliche irdische Zustand. Das Sichern, Organisieren und Regeln des Vorübergehens, ohne dabei neue Schließungen zu bilden, das ist meiner Meinung nach die Aufgabe der Demokratie im globalen Zeitalter.
(Übersetzt von Adrian Hanselmann und Michael Grieder aus dem Französischen).