Desinteresse ist Brandstiftung
Warum wir aufhören sollten, unhaltbare Mutmaßungen über Terror herumzureichen, und beginnen sollten, nicht nur über Rassismus zu sprechen, sondern uns darum zu kümmern.
Tagtäglich jagen sich Meldungen von Attentaten, Terroranschlägen, Amokläufen, und niemand weiß mehr genau, wie und ob man diese Ereignisse noch irgendwie einordnen sollte. Abgelutschte Erklärungen werden bemüht («Islamismus!», «Flüchtlingskrise!», «Banlieues!») und vermeintliche Rezepte propagiert («mehr Polizei!», «Ausnahmezustand!», «Zuwanderungsbegrenzung!»).
Neuere und ältere rechtsradikale Parteien lecken sich die Finger ab diesem Diskurs, der ihnen die Ankerpunkte ihrer himmeltraurigen politischen Programme quasi auf dem Silbertablett serviert. Genau betrachtet sind deren Erfolge aber keineswegs logisch, da sie selbst den größten Teil des Problems repräsentieren.
Verblüffende Gemeinsamkeit?
Vergessen wird in diesen Debatten der Zusammenhang, der die vielen hundert Übergriffe und Anschläge auf Refugees und deren Unterkünfte allein im letzten Jahr, nicht nur mit dem NSU, Breivik und dem Gedankengut der Identitären verbindet, sondern auch deren (verblüffende?) Nähe zu islamistischem Terror aufzeigen lässt.
Das einzige, was manchmal ungesagt, manchmal ausgesprochen, diese Phänomene voneinander trennen soll, ist eine altbekannte Dichotomie, die mal als Westen/Islam, Orient/Okzident, Kuffar/Salafiyya, Volk/Ausländer oder als Wir/Diese ihr Unwesen treibt. Und wirklich verblüffend: Die sich damit so gerne unterscheiden wollten, finden sich wieder in völliger Übereinstimmung, denn sie alle denken sowohl identitär als auch rassistisch.
Und darin liegt die Krux: Die Ereignisse überschlagen sich, wie es scheint, doch ist nichts daran neu und noch weniger unbekannt. Niemand kann sich im 21. Jahrhundert noch ernsthaft fragen, warum jetzt Rassismus plötzlich gefährlich ist, weil «plötzlich» ist daran gar nichts. Die Frage kann nicht sein, warum die gleichen Ideologien, die bereits zu Holocaust, Kolonialismus und Sklaverei geführt haben, nicht inzwischen freundlich geworden sind. Die Frage ist, wo man Rassismus auffindet und was man damit unternimmt.
Intersektionaler Feminismus statt rechte Internationale
Das Identitäre bringt es mit sich: Rassismus und Sexismus gehen Hand in Hand. Ein postpatriarchaler Katzenjammer durchzieht diese Diskurse und der Hinweis, dass es sich bei all diesen Gewalttätern um männliche Wesen handelt, ist symptomatisch. Doch darf auch daraus kein eindimensionaler «Hauptwiderspruch» gezeichnet werden. Auf der anderen Seite darf die führende Rolle, die manche Frauen in den neurechten Parteien innehaben, nicht als Sternstunde der Gleichberechtigung missverstanden werden.
Im Gegenteil: die spätestens seit 9/11 wiederkehrend herumgereichten vulgärfeministischen Anliegen mit islamophober Pointe, zeigen sich tatsächlich weniger als Ironie (die alten Frauenfeinde machen sich für Frauenrechte stark), sondern als haarsträubender Zynismus: Mit dem vermeintlichen Aufklären über Mangel an Gleichberechtigung «woanders» wird ein feministischer Endsieg in «westlichen Gesellschaften» suggeriert, der von gleicher Seite an anderer Stelle wieder zum Feindbild herhalten muss. In Tat und Wahrheit ist Frauenfeindlichkeit, Queerphobie und Antifeminismus eine weitere und große Gemeinsamkeit zwischen den Rechten hierzulande und den Islamisten in der Levante.
Kritik muss demnach auf der Theorie der Intersektionalität beruhen: Unterdrückung geschieht auf geschlechtlicher (biologisch und/oder gender), rassistischer und ökonomischer Basis. Es ist keineswegs möglich, eine «Sektion» herauszugreifen und zu bekämpfen, die anderen Unterdrückungsformen aber stillschweigend oder offen zu begrüssen.
Bei identitärem Gedankengut fließen Rassismus, Sexismus und Klassismus unverhohlen ineinander, womit deren Differenzierung für diese Betrachtung teilweise hinfällig wird. So sicher der oben dargestellte Zusammenhang von Terrororganisationen und rechtem Gedankengut hergestellt werden kann, so wichtig ist es, dieses Zusammenhängen auch von Seite der Kritik stark zu machen.
Tatort Internet
Wohl bekannt sind die Ausfälligkeiten der Kommentarspalten-Nazis, ein Phänomen, das im Allgemeinen konsterniert zur Kenntnis genommen, aber kaum angegangen wird: Größere Blätter leisten sich Studis, deren prekäre Lage sie zwingt, für wenig Geld stundenlang die Exkremente eines Diskurses zu sortieren, die durch den Traffic-Imperativ geradezu herausgefordert wurden.
Gewisse Click-Bait-Headlines sind, auf ihr diskursives Skelett reduziert, nichts anderes, als eine digitale Beschilderung mit der Aufschrift: «Hier unten hin scheißen, s’il vous plaît». Buden mit Gewissen oder ohne Kleingeld verzichten auf die Schaffung solch journalistischer Arschkartenjobs, schalten die Kommentarfunktion aus oder moderieren die User-Ergüsse interaktiv und höchstselbst.
Das große Problem am Internet ist aber, man halte sich fest, dass die Kommentarspalten-Nazis echte, lebende Wesen sind. Noch gefährlicher ist, dass die Stimmung, die von diesen Trollen gefördert wird, ebensowenig virtuell ist. Der Stammtisch ist nur sehr viel größer geworden, und damit die Chance, dass ein angetrunkenes Durchschnittsarschloch angestachelt auf dem Nachhauseweg einen Brand legt oder sonstwie tätlich wird, massiv gewachsen. Die Dorfbeizenblödheit hat sich globalisiert.
Kalauer der Kategorie «explosiv»
Einige Vorfälle, derer zwei innerhalb der letzten Wochen über die lausigen Bühnen meines subjektiven Alltags gingen, geben Anlass, wiedermal zu reflektieren, was Rassismus im Alltag effektiv bedeutet. Dieser ist nicht nur eine Ästhetik paranoider Menschen ohne Phantasie, eine politische Panikattacke von Globalisierungsverlierern oder einfach eine pathologische Intelligenzschwäche, sondern, und das ist das Wesentlichste daran: reine Gewalt.
Rassismus dringt unerwünscht in das Leben anderer Leute ein: Er bricht in die Seele der Angegriffenen mit einer Art zwischenmenschlicher Ramme ein, obwohl der oder die Angreifende da nichts verloren hat. Diese Person reagiert potenziell besonders hässlich, wenn das Gegenüber den Einbruch nicht zulässt.
Man könnte das der Metapher folgend ein vulgärpolizeiliches Verhalten nennen. Rassismus ist nicht nur Antastung der seelischen Würde, denn Angriffe wegen und gegen das Aussehen eines Menschen betreffen den Körper: Da wir alle mit unserem Körper einigermassen leben müssen, ist eine Ablehnung dessen im Vorwurf, nicht anders zu sein, eine unterschwellige Aufforderung, nicht zu sein. Es handelt sich also um eine spezielle Form körperlicher Nötigung und erfordert verdammt viel Kraft, diese zu parieren. Das macht Rassismus zum vielleicht größten Pulverfass unserer gemeinsamen Welt.
Kultur als Narzissmus und Nabelschau
«Sprächenzi Däutsch?» – eine Frage, die man als appenzellischen Klassiker bezeichnen könnte und immer da gestellt wird, wo jemand auf Hohheitsgebiet der Sioux und Weedbökk sich erfrecht, ohne Ohreschuefe und Mistgabel frische Luft zu schnappen. Darauf folgt zumeist ein «äus wölchem Land komscht du?», oder «sönzi hier in den Ferien?» – unabhängig davon, ob man gerade in feinstem Toggenburgerisch geantwortet hatte.
Nahezu immer werden solche Situationen als niedlich und irgendwie authentisch rezipiert, ignorant gegenüber der Tatsache, dass es sogar hierzulande kaum konservativere Landstriche gibt. Abstimmungen, die es erlauben, ein gewisses Mass an Rassismus an der Urne auszudrücken, erzielen da oben, mit einigen wohltuenden Ausnahmen im sonnigen Vorderland, beängstigende Höchstwerte.
Die Demütigung, von Menschen die selbst keine Fremdsprache beherrschen, konsequent in der Schriftsprache angesprochen zu werden (die von solchen Leuchten im Übrigen selten annehmbar gekonnt wird), ist mitnichten kleinzureden: Sie ist Ausdruck eines Kurzschlusses in den Wirrungen des Denkapparats, wobei alle logischeren Indizien ausgeklammert werden. Einzig das Auge wird berücksichtigt und gibt fatale Auskünfte, was nicht verwundern kann, weil das Optische in dieser Frage niemals eine Referenz darstellen könnte. Dies ist eine Spielform des Rassismus – und keine opportunistisch-romantische Selbstbezogenheit am Stinkfuße des Säntis ändert etwas an diesem Faktum.
Vor einiger Zeit an einem Büezerznünitisch im St.Galler Marktplätzli referierte ein linkswählender Budenchef zwischen zwei Bissen Nussgipfel bedeutsam: «Schwarze gehören nicht hierher, das ist einfach eine andere Kultur.» Dies mit weltenbürgerlicher Geste und dem vorgeschobenen Vorwand tiefster Philanthropie.
Man mag schockiert sein, doch die Ideologie, es gäbe verschiedene statische Kulturen (manchmal sprachlich, geographisch, oder am Aussehen festgemacht), findet sich bis weit in linke Kreise hinein. Sie ist nichtsdestotrotz, mit Verlaub und Unterstreichung: rassistisch. Mal Neo-Rassismus oder Kulturalismus genannt, ist dieses Denken aber gar nicht neu: Schon Antisemitismen und Antiziganismen vor und während den Weltkriegen waren zu weiten Teilen kulturalistisch.
Die sogenannte Postmoderne in Philosophie und anderen «Disziplinen» hat solche Reduktionismen eigentlich beerdigt, wird aber aktuell von durchwegs polemischen Spielarten eines «Neuen Realismus» angegiftelt, die zu Ende gedacht eine gefährliche Nähe zu identitären Ideologien aufweisen. Man findet sich wieder in einer als entpolitisiert empfundenen Welt, worin hochgefährliche Gifttöpfe herumgereicht werden wie Bonbons, mal das Internet betreffend verniedlicht werden («tut ja niemandem weh»), oder eben genauso absurd: für realistisch-sinnvoll gehalten werden, immer untermauert von willkürlichen optischen Beobachtungen und subjektiven Gefühlen, die nichts als (identitäre) Ressentiments vermitteln.
Despot*innen des Alltags
Was einem endgültig den Nuggi rauszieht, ist die unverblühmte Dreistigkeit gewisser Leute, die in aller Öffentlichkeit vermeinen, dem Common Sense zu folgen, während sie einem ihr ganzes krankes Weltbild vor die Füße erbrechen. So unlängst zu späterer Stunde vor einer Kneipe in St.Güllen, als ein befreundeter Barkeeper von einem bestellten Taxifahrer nachtruhestörend verflucht wird. «Verdammte Africano! Ich lüte Polizei aa, denn isch de schnell wägg!»
Ein mutmaßlich nüchterner Täxeler verliert während der Arbeitszeit völlig die Contenance, und zittert hinter seinem Steuer panisch wirres Zeug hervor, im rassistischen Irrglauben, jemand mit dunklerer Hautfarbe müsse zwangsläufig «aus Afrika» kommen, und im faschistischen Irrglauben, es sei Aufgabe der Stapo, diese Person dahin zu deportieren. Unnötig darüber von Gefühlen zu sprechen. Wenn das alltäglich ist, dann hat unser Alltag ein Naziproblem.
Und schließlich, vergangene Woche im Intercity-Kaffeewagen, in Gossau gerade losgefahren, macht eine Mitfahrende mit paramilitärischem Appell auf sich aufmerksam: «ZAHLEN! Chönd die nume Französisch det hine? PAYER QUOI!». Die Serviceangestellte kommt angerannt, und wird trotz Durchsage («fünf Minuten Verspätung wegen Bauarbeiten, wir danken für Ihr Verständnis») von der Mitfahrenden angebellt, ob denn hier nur Französisch gekonnt werde.
Der Zug hat es sich währenddessen vor Winkeln bequem gemacht, Warte- und Restfahrtzeit hätten also ohne Umstände für gemütliches Bezahlen und ein kurzes Bier gereicht. Die Angestellte gibt wenig beeindruckt zurück, dass sie nach Belieben italienischisch, spanisch, portugiesisch, englisch oder französisch bedienen würde.
«Je préfère allemande!» und «ich ha glaub gar kei Gäld da!» antwortet die Despotin nahezu übereinander. Die bisher sehr freundliche Bedienung ist langsam angepisst: «C’est bon! C’est très bien. Au revoir.».
Despotin will trotzdem bezahlen und läuft hinterher: «Madame, nous sommes ici dans la suisse allemande!», wird an der Theke von der zweiten Angestellten in schönstem Bärndüütsch durch den Bezahlungsprozess geleitet, hat jedoch an dieser Bedienung noch weniger Freude. Wieder zurück auf dem Platz: «Cettes africaines! Cettes africaines! Avec ces bananes! Uhuh! Haha! Avec ces bananes.» Darauf aufmerksam gemacht, dass solche Rassismen inakzeptabel sind: «Etz hani drümal grüeft ich wett zahle.»
Grummelnd wieder zurück zur Theke: «S’schlimmscht isch ja na, dass sie äfach lacht». In Richtung Angestellte bedeutet sie, dass sie die Zugnummer aufnehmen und beim Kondikteur eine Reklamation platzieren werde. Diese hat die Schnauze voll und verwirft die Hände: «Alors, on y va!».
Despotin schließlich zu einem älteren Fahrgast in ländlicher Kluft: «Wüssezi, die lached jetzt blöd. Aber ich gange go reklamiere, UND DÄNN ISCH DIE IHRE JOB LOS, DÄNN ISCH DIE WÄGG!» Dieser herablassend und fasziniert: «Neheei vezöll.»
Konfrontation!
Muss man sich also daran gewöhnen, dass der freundlichere Teil unserer Umwelt mit Tieren verglichen wird, bei der Arbeit belästigt, bedroht und toujours aufs Übelste angegangen wird? Wohlgemerkt ist hier die Rede von Dienstleistungsjobs, wo man tagtäglich mehr Gelegenheit kriegt, am eigenen Karma zu arbeiten als andere Leute in einer Lebenszeit, weil man Leuten den Kaffee vor den Latz tragend doch andauernd wie der letzte Dreck behandelt wird.
Wird irgendjemand in diesem Land die Ängste in der Bevölkerung ernstnehmen, die berechtigten Ängste, beruhend auf Übergriffen, Beleidigungen und persönlicher Diskriminierung, dass diese Gesellschaft am Abgrund steht, wenn niemand den Rassist*innen erklärt, dass sie selbst nur zu Gast sind auf dieser Welt, und mit solchem Verhalten in einem friedliebenden Alltag unwillkommen?!
Franco «Bifo» Berardi bemerkte nach dem Attentat in Würzburg im sehr empfehlenswerten Interview mit der «Süddeutschen», gegenüber Terror und Amokläufen in dieser Gesellschaft helfe einzig, auf die Menschen zuzugehen, dies nicht nur auf Social Media, notabene. Er hat recht damit, ein anderes Rezept gegenüber verbreiteten Depressionen und Soziopathien gibt es schlichtweg nicht, und: alles andere ist vorsätzliche Marginalisierung. Zum Mitschreien: Desinteresse ist Brandstiftung.
Betonen muss man, dass dabei die bekannte Antifa-Lektion nicht vergessen werden darf: Man muss auch auf die Identitären und («Alltags-»)Rassist*innen zugehen oder ihnen im Weg stehen. Das darf anständig und respektvoll sein, muss es aber keineswegs. Auch Nazis sollten nicht zulange alleine sein, weder im Netz noch auf der Straße, sonst kommen sie auf dumme Ideen.
Es ist obligatorisch, die die Gesellschaft und damit unsere Umwelt spaltenden Kräfte zu konfrontieren, ihnen ins Gesicht zu sagen, was man von ihrer rassistischen Ideologie und den identitären Ressentiments hält. Große Angst haben müssen wir alle, genau solange dies nicht geschieht.