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Tausend Fluchtlinien

28. April 2016, 20884 Zeichen

Wir schreiben das Jahr der Inkontinenzunterwäsche (die Sponsorenzeit wurde unter dem Präsidenten Gentle eingeführt und begann mit dem Jahr des Whoppers). Hal Incandenza kifft heimlich, kennt ganze Wörterbücher auswendig, gilt als eine der Nachwuchshoffnungen im nachinterpendenten Amerika. Er lebt in der Enfield High, wo er mit seinem Förderstipendium für Tennis studiert, trainiert, mit Drogen experimentiert und vor den quartalen Stichproben sauberes Kinderurin in Röhrchen unter seinen Achseln wärmt. Seine Mutter ist Rektorin, Expertin in präskriptiver Grammatik und Witwe von James Incandenza, Koryphäe in optischer Biologie, Gründer der Enfield High und in seinen letzten drei Jahren Filmemacher, welcher mit dem drame trouvé das Ende des post-poststrukturalistischen Films einläutete, mit Filmen, die weder umgesetzt noch konzipiert wurden und nur als angestossener Diskurs bzw. Gedankenexperiment existierten. Er selbst (wie er von seinen drei Söhnen genannt wird) machte seinem Leben mit dem Kopf in der Mikrowelle ein Ende. Seine Söhne sind Hal (oben erwähnt), Orin (halbseitig trainierter Football-Profi, der sich in seiner Phoenixer Wohnung vor der Hitze versteckt) und Mario (pathologisch betrachtet körperlich / geistig behindert, der als legitimer Nachfolger seines Vaters ständig mit einer Kamera auf dem Kopf geschnallt durch seine Welt torkelt und einziger Freund von Schtitt, dem gefürchteten Trainer an der Enfield und Tennis-Philosoph).

Unendlicher Spass von David Forster Wallace gleicht eher einem Fluss mit Nebenflüssen, Zuflüssen, Strömungen und Wasserfällen, als einem gefühlten 5 Kilogramm schweren mit 1500 Seiten vollgedruckten Bestseller. Die zahlreichen Figuren, die Geschichten und Anspielungen verschmelzen in den Rhythmen, Bewegungen, Sprüngen und Brüchen auf welchen die Leserinnen und Leser der mannigfaltigen Autorschaft von D. F. W. in den unendlichen Spass folgen. Wie die fliehenden Autorinnen und Autoren der überlegenen angloamerikanischen Literatur drischt Wallace auf die Sprache ein, verbiegt sie, dehnt sie aus, lässt sie springen, stottern, dreht sie und erschafft mit Wortgewalt tausend kleine prekäre Welten. In Absurditäten getarnte, feine Verschiebungen greifen ein in die opaken Buchseiten, lassen Durchsichten zu und Wurmlöcher entstehen, Hierarchien verlieren ihre Herrschaft über die linearen Geschichtserzählungen.

Voraus geht ein Scheitern, das leise Scheitern des Betrügers, der sich für einen grossen Verräter hält. Mit einem Berg akademischer Bücher bewaffnet suchte ich den Weg durch die verwachsenen Ranken der Fluchtlinie, Exodus, dem Plebejischen, zwischen grossen Namen und vielfältigen Interpretationen. Es gelang mir nicht so zu arbeiten, wie es die Grundlage bedarf, nicht den Weg zu verlassen. Ich wage aber zu behaupten, die vermeintlichen Fehler gefunden zu haben: Kopieren statt Stehlen, Wiederholen statt Verschieben, Nachplappern statt Schreiben. Im X-ten Versuch wage ich nun das akademische Schreiben zu verlassen und alle Zweit- und Drittliteratur beiseite zu legen. Der hier folgende Schreibprozess soll ein Dialog sein, zusammengestückelt aus Zitaten von Gilles Deleuze und meinem Versuch als Schreibender an seinen Gedanken entlanghangelnd die Eigenen zu entwickeln, torkelnd, hüpfend, fallend, sich widersprechend, der Versuch schreibend zu denken, statt nach Erkenntnis zu suchen. Als schreibender Mensch, der nicht nur ein Schriftsteller ist, sondern ein experimentierender Mensch, der Versuchsweise etwas Nichtmenschliches wird.1 Schreiben als Nichtwissender, in minoritärer Form zwischen wissenschaftlichen Wahrheitsfindungen. Meine Ausgangslage der Flucht ist bereits im Schreibversuch immanent, womit das Schreiben, der Prozess als Fluchtlinie sich selbst überlappt, durchquert und zwischen Stil und Inhalt ineinandergreift. Ich muss abschütteln, dass ich schreibe, damit das Produkt von jemandem gelesen werden kann, in diesem spezifischen Fall von meinem Dozenten, vor dem ich mich blamieren kann, der jeder meiner Fehlinterpretationen sofort entlarft. Aus minoritärer Perspektive versuche ich mit den Worten zu arbeiten und mich mit ihnen zu bewegen, als Nichtexperte. Das Schreiben selbst und die nachfolgenden Reflexionen offenbaren die Notwendigkeit der Flucht bereits in der kleinen eigenen Welt. Flucht verstanden als fluide Form von Widerstand, als bewegliches Aufreissen von festgefahrenen Strukturen und Herrschaftsverhältnissen. Umschlungen von diesem Machtgefüge scheint der Widerstand der Ausweg, doch eigentlich verhält es sich genau andersherum. Widerstand braucht es als formende Kraft, als vorausgehendes Element, das Widerständige ist nicht wie das Wort zu sein scheint eine Antwort, eine Reaktion. Der Widerstand ist Zerstörung und Schöpfung, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung. Das letzte Wort der Macht lautet, dass der Widerstand primär ist, in dem Masse, in dem die Kräfteverhältnisse ganz ins Diagramm eingebunden sind, während die Widerstände notwendigerweise in direkter Beziehung zum Aussen stehen, von dem die Diagramme ihren Ausgang genommen haben. So dass ein soziales Feld Widerstand leistet, bevor es sich nach Strategien organisiert, und das Denken des Aussen somit ein Denken des Widerstands ist.2 Obwohl es weder ein Aussen noch ein lineares Davor und Danach gibt ermächtigt der Widerstand das Verlassen eines erhärteten Verhältnisses. Das Primäre am Widerstand verweist darauf, dass die Macht niemals alleine auftritt und nur in produktiver Reibung mit dem Widerstand schöpferisch sein kann. Allem geht Widerstand voraus. Doch meint dieses Alles nicht eine Universalie, einer transzendentalen Wahrheit sondern der fortlaufende Prozess. Sowenig aber der Widerstand selbst bereits eine feste Form besitzt, so zeigt sich die Fluchtlinie, die sich nicht definiert durch ihren Raum oder ihre Umrisse, sondern zuerst durch ihre Nicht- Masse. Die Fluchtlinie ist reines Werden, nicht mehr das woher es kommt und noch nicht das zu was es wird. Sie lässt alle Formen zu und zersetzt diese gleich wieder in ihren Sprüngen und Brüchen. Wer sich auf der Fluchtlinie bewegt hat nur das Jetzt, nur die Flucht, weder seine Geschichte, noch seinen möglichen Weg. In einer Fluchtlinie steckt immer auch Verrat. Nicht Betrug und Schummelei des seine Zukunft arrangierenden Ordungsmenschen, sondern Verrat wie der der einfachen Leute, die keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr haben. Verraten werden die starren Mächte die uns zurückhalten wollen, die herrschenden Mächte. Verrat wurde als zweiseitige Abwendung, in dieser Entrückung der Gesichter vollzieht sich die Flucht, die Deterritorialisierung des Menschen. Verrat ist wie Diebstahl – stets ein zweiseitiger Akt.3 Der Verräter aber entzieht sich nicht seiner Realität indem er sich im Unterholz verkriecht oder sich dem nächstbesten Heer anschliesst, wie es der Deserteur vermeintlich möchte. Der wahre Verrat des Deserteurs wendet sich aber gleichzeitig vom Bestehenden ab sowie der Flucht zu. Was er hinter sich lässt ist seine Position im Ordnungssystem, seine Ein- und Ausschliessung, seine vermeintliche Sicherheit, den vermessenen Boden, die definierten Befehle und Anrufungen. Vor ihm liegt nichts. Der Fluchtlinie folgend erschafft der Verrat von neuem Grenzen und Territorien, dem Prekär-Sein davor und danach in seiner Kontingenz ausgeliefert. Die Flucht kann aber auch der Versuch sein zu überleben, der Endlichkeit für kurze Zeit zu fliehen. Das Fluchttier Pferd hat dafür einen eigenen Fluchtmodus entwickelt, das es vor Gefahren schützt, indem es seine kognitiven Fähigkeiten vollständig ausschaltet. Dieser Modus tritt in Kraft, sobald etwas für das Pferd bedrohliches passiert, es erschrickt. Es folgt ein Weglaufen im Renngallopp, ohne Blick zurück (obwohl Pferde sich, mit nach vorn gerichtetem Kopf über den eigenen Rücken schauen können). Nach ungefähr 400 Metern dreht es seine Hinterhand zur Seite, womit es sich 90 Grad dreht und es das erste Mal wieder um sich schaut, um zu erkennen, wo es gelandet ist und ob sich die Gefahr verzogen hat. Ist es sicher, atmet das Pferd tief ein und sucht womöglich nach frischen Halmen um sich fressend zu beruhigen – es ist an einem neuen, anderen Ort angekommen. Die Fluchtbewegung selbst, welcher das Tier folgt ist völlig zufällig und hat selbst keine Form, kein Territorium, keine Reflexion oder Planung. Der Körper dieses Fluchttieres durchbricht alles, um der vermeintlichen Gefahr zu entkommen. Reiterinnen und Reiter nennen diesen Zustand «Right Brain» und erklären ihn damit, dass die Furcht das Gehirn der Pferde umschaltet auf den «wilden, instinktiven» Teil. Erst die Bewegung der Hinterbeine zur Seite öffnet den Blick für die Welt erneut und ermöglicht dem Pferd auf die «denkende» Hirnhälfte zurückzuschalten. Die Flucht des Pferdes kann aber nicht nur im Wechsel der wesensunterschiedlichen Formen von Instinkt und Intelligenz gedacht werden. Es ist die Bewegung, die dem Bild des fliehenden Pferdes die Möglichkeit des positiven Charakters der Fluchtlinie hinzufügt. Produktiv ist diese Flucht im Sinne einer Verschiebung des Territoriums zu einer neuen Ausgangslage, wie gross die Kraft der Veränderung jedoch war lässt sich erst nach der Flucht erkennen. Womöglich möchte das Pferd nur weg von dem Raubtier oder der tödlichen Gefahr, vielleicht aber ist es auch der Weg, den es einst zu den Menschen führte, in tausenden Fluchtlinien fort und zugleich in ein Mensch-Werden wobei der Mensch gleichermassen Pferd wird – ein gegenseitiges Werden zu einer Mensch-Pferd- Maschine. Und für diese Maschine kann die Flucht des Pferdes wiederum zur Zerstörung führen oder als solche zu Reisen aufbrechen, wie die Arbeiterinnen und Arbeiter im frühkapitalistischen Amerika nach Westen. Die grossen geographischen Abenteuer der Geschichte sind Fluchtlinien, das heisst lange Wanderungerungen und Märsche, zu Fuss, zu Pferd oder mit dem Schiff: der Zug der Hebräer durch die Wüste, das Überqueren des Mittelmeers durch die Vandalen unter Geiserich, die Wanderung der Nomaden durch die Steppe, der «Lange Marsch» der Chinesen – schöpferisch tätig wird man immer nur auf einer Fluchtlinie, gewiss nicht, weil man da seiner Einbildungskraft freien Lauf liesse oder kühne Träume ausheckte, sondern ganz im Gegenteil, weil man da Reales absteckt und einen Konsistenzplan entwirft. Fliehen, ja, doch im Fliehen nach einer Waffe suchen…4 Die Flucht ist Bewegung, sie durchbricht das festgefahrene Ping-Pong der Binarität – weder als Antwort noch Frage, auch nicht als Opposition. Es ist aber nicht die Bewegung in eine bestimmte Richtung, von einem bestimmten Punkt, in einer bestimmten Form, es gibt keinen Flüchtigen, keine Flüchtige. Aus der Heimat führt nicht die einfache Überschreitung der festgelegten Grenzen in das Neue und Gute, wobei man wieder an seinem Ausgangspunkt landet. Nur der kompromisslose Verrat lässt die starren Formen fliehen, es braucht den Kamikaze- Flieger, der über den Rand seiner Welt dem eigenen Fehlen entgegentritt, das mögliche Auflösen alles bisherigen und vertrauten. Verrat heisst werden ohne wissen wohin das führen wird, ohne jemals irgendwohin führen zu wollen. Erst die Suche nach der Waffe macht die Flucht-Bewegung zu einer Fluchtlinie, zu einer produktiven Flucht. Jedoch impliziert diese Suche nicht das Finden als Ziel, sondern die Suche selbst. Die Deterritorialisierung ermöglicht ohne Territorium nach Waffen zu suchen, Werkzeuge zu erschaffen, schöpferisch zu sein. Auf den Fluchtlinien darf es nurmehr eins geben: das Leben als Experiment. Man weiss nie im voraus was eintreten wird, weil man weder Zukunft noch Vergangenheit mehr hat. «ich, so bin ich»: damit hat’s ein Ende.5 Niemand weiss wie es dort aussieht wo noch niemand gewesen ist, entscheidend aber ist der erste Schritt darauf zu, womit dieser Schritt bereits zu einem Versuch, einer Suche nach einem Ort den Fuss abzustellen. Einen solchen Ort suchten am 15. Mai 2011 in Madrid über eine Million Menschen, die auf die Strassen gingen. Sie beriefen sich auf die Aufstände in Kairo und Tunis und folgten ihrem Vorbild indem sie den zentralen Platz der Stadt besetzten. In diesen Protesten um den «Arabischen Frühling» wurde auf den ersten Blick eine Demokratie mit westlichem Vorbild verlangt. Doch dann geschah seltsames: Keine Führungsriege wurde gewählt. Sie forderten nicht von einem repräsentativ- demokratischen Staat mehr Mitspracherecht, neue Arbeitsplätze oder bessere Lebensbedingungen. Die Aktivistinnen und Aktivisten besetzten die Puerta del Sol in Madrid und richteten sich ein. Versammlungen wurden abgehalten, experimentierend Formen von basisdemokratischer Entscheidungsfindung und Zusammenleben erprobt. ¡Democracia Real YA! Was sich wie eine Forderung anhört, ist der Widerstand, die Kritik am Bestehenden, der Ausruf der sagt «wir lassen uns nicht mehr so regieren». Die Besetzerinnen und Besetzer erprobten neue Lebensweisen und erschufen neue Formen in mehr sozialen und politischen als aktivistischen Praxen. Die Suche nach einer Waffe, das Leben als Experiment, das konstitutive Moment, die bestehende Herrschaft fliehen haben einen Funken gezündet, der von Stadt zu Stadt sprang und viele grosse Städte überall auf der Welt Feuer fingen. Die Veränderung, welche in tausend molekularen Revolutionen fortschreitet, die Fluchtlinien, welche in alle Richtungen fliehen, die Mulititude, welche sich von dem Einen abwendet und die erschaffende Vielheit ohne intellektuelle oder polizeilichen Führung reissen ganze Welten ein, die weit über die besetzten Plätze hinausgehen. Die postfordistische Produktionsweise mit ihren diffusen, vielheitlichen, zerstreuten Formen der Erschaffung von Mehrwert und prekären Arbeiterinnen und Arbeiter fand den adäquaten Widerstand auf den besetzten Plätzen. Die Praxen der experimentierenden Lebensformen ohne Representation bedürfen Theorie (z.B. mit dem Begriff der präsentischen Demokratie), welche aus der Genealogie von Leviathan, Hobbes und in der Folge der neoliberalen ausbeuterischen Mechanismen den Kopf abschlägt. Ich meine damit nicht die euphorische Weltverbesserungsvorsehung, sondern tatsächliche Fluchtlinien aus festgefahrenen Denksystemen, welche noch vom Civil War oder der regierbaren Stadt träumen. Die Fluchtlinie wird zur Kriegsmaschine. In Tausend Plateaus werden viele Richtungen angezeigt, darunter drei Hauptrichtungen: Zunächst scheint eine Gesellschaft sich weniger durch ihre Widersprüche zu definieren als durch ihre Fluchtlinien, sie flieht von allen Punkten aus, und es ist sehr interessant, in diesem oder jenem Moment den sich abzeichnenden Fluchlinien nachzugehen. Es gibt eine zweite Richtung in Tausend Plateaus, und hier geht es nicht mehr nur um die Berücksichtigung von Fluchtlinien anstelle von Widersprüchen, sondern von Minoritäten anstelle von Klassen. Und schliesslich eine dritte Richtung, die in der Suche danach besteht, welchen Status «Kriegsmaschinen» besitzen, die sich überhaupt nicht durch den Krieg definieren, sondern durch eine bestimmte Weise, den Zeit-Raum zu besetzen, auszufüllen, oder neue Zeit- Räume zu erfinden: solche Kriegsmaschinen sind revolutionäre Bewegungen, aber auch künstlerische Bewegungen.6 Die drei Richtungen, welchen Gilles Deleuze und Felix Guattari folgen überlappen sich, durchqueren sich, gegenseitig und sich selbst. In der Kriegsmaschine finden wir eine schöpferische Fluchtlinie, die dem Staatsapparat minoritär gegenüber steht. Der Staatsapparat als Form der Sozialität hat sich zum Vorbild stilisiert und blendet dermassen, dass die Kriegsmaschine als seine reine äussere Form nurmehr schemenhaft erkennbar ist. Die schöpferische Vervielfältigung, der Vielheit kann jedoch nur aus der produktiven Kraft der Kriegsmaschine ihren Ursprung haben. Aus Sicht des Staates erscheint die Originalität des Kriegsmannes, seine Exzentrizität, zwangsläufig als Negat, als Dummheit, Missgestalt, Verrücktheit, Unrechtmässigkeit, Usurpation, Sünde.7 Im Blick durch die Raster der Staatslogik zeigt sich die hierarchische Normalisierungspraktik der Machtapparatur der Herrscher, dem Fetisch des Einen, der rechtmässigen Einheit. Mit Gewalt, Ein- und Ausschliessungspraktiken, dem Regime von Hass und Reue werden starre Herrschaften formiert und affirmiert. Die Kriegsmaschine als ihr Aussen ist die Erfindung von Waffen, die Schöpfung im Werden. Wie die Nomaden, welche sich nicht von der Stelle bewegen und selbst zur Kriegsmaschine werden, könnten die Besetzungs-Camps von 2011 angesehen werden. Sie bewegen sich in der Erfindung neuer Waffen rasant, jedoch nicht von der Stelle im geografischen Sinne, sie klammern sich an die besetzten Plätze. Der Erfindungsreichtum zeigt sich in der täglichen Praxis der Lebensweisen, der ständigen Veränderung, des fluiden Denkens, dem Subjektivierungsprozess, der die Differenzen in sich aufnimmt, statt sie zu schleifen. Es werden aber nicht neue feste Systeme vom Staat erfunden, sondern die Sozialität der Multitude in jeder ihrer Bewegung. Die Kriegsmaschine auf voller Leistung. Der Krieg im herkömmlichen Sinne des Wortes ist aber weder in der Kriegsmaschine noch im Staatsapparat enthalten. Es kommt erst zum Krieg, wenn der Staat die Kriegsmaschine vereinnahmt, überschreibt und für seine vereinheitlichen Zwecke gebraucht. Auf den Fluchtlinien werden neue Waffen erfunden, um sie gegen die schweren Waffen des Staates zu wenden, und «es kann sein, dass ich auf der Flucht bin, aber ich suche dabei eine Waffe» (Georg Jackson). Auf ihren Fluchtlinien fegten die Nomaden alles beiseite und fanden neue Waffen, die den Pharao vor Staunen erstarren liessen. Alle Linien, die wir unterschieden haben, können gleichzeitig in einer Gruppe oder einem Individuum vorhanden sein. Aber häufiger funktioniert eine Gruppe oder ein Individuum selber als Fluchtlinie; es schafft sie eher, als dass es ihr folgt, es ist selber eher die lebende Waffe, die es schmiedet, als dass sie sich aneignet. Fluchtlinien sind Realitäten; das ist gefährlich für die Gesellschaften, obwohl sie nicht darauf verzichten können und sie manchmal wie ein rohes Ei behandeln.8 Es ist ein globaler, neoliberaler Krieg im Gange, den es mit Erfindungskraft zu fliehen gilt. Neue Lebensweisen, vielheitliche Subjektivierungsformen und Auswege aus Unterdrückungsmechanismen, werden benötigt um der Fluchtlinie zu folgen, ausserhalb der Verwertbarkeit wie es der neoliberalen Imperativ von «be creative» vorschreiben möchte. Es gibt jedoch nicht ein immerwährendes Werden, ein ständiges Fliehen, das unendliche Erfinden. In tausend singulären minoritären Praxen können die Bedingungen für Ereignisse geschaffen werden, die möglicherweise ein Werden anstösst, das wirkliche Veränderung und Erfahrung mit sich bringt. Wir werden nie wissen, was die Veränderung bringen wird, es birgt aber die Möglichkeit die starren Mächte der Einheit zu durchbrechen und die Vielheit zuzulassen, es ist nicht mehr als, aber auch nicht weniger als ein Experiment, ein Versuch, die Erfahrung des eigenen Vermögens.

Die produktive Flucht trägt viele Namen, sie taucht auf zwischen Erklärung des erschaffenden Prinzips, bis zu einer Tugend: Exodus, konstituierende Macht, Kritik und bestimmt viele mehr, die ich nicht kenne. In Nuancen oder Filliation unterscheiden sie sich fein oder grob, aber eines haben sie gemeinsam: Der Glaube an den Widerstand als Momentum der Veränderung, das in irgendeiner Weise angeeignet werden kann oder muss, ein hohes Ziel. Und hat dieser Widerstand, das kleine Neue, die feine Innovation nicht auch düstere Schattenseiten? Veränderung alleine ist noch keine Verbesserung. Muss ich mich nicht auch für die Konservierung ausserhalb des delirieren zuwenden? Wenn der Imperativ der postfordistischen Produktionsweise der Innovation innewohnt, werden die Verräter nicht gleich wieder gestellt, sobald sich ihre Fluchtlinie reterritorialisiert? Ist es nicht genau die kapitalistische Verwertbarkeit, die aus jedem schreibenden Verräter einen Betrüger macht? Mein Schreiben als Prozess, als Versuch, als Experiment wird in dem Moment zu einem lächerlichen Betrug, wenn es als Zahlungsmittel für ECTS-Punkte verwertbar wird, sobald das Resultat als Produkt bewertet wird. Kann ich dem entfliehen, gibt es einen anhaltenden Dialog anhand dieses Textes, der das Denken weiterträgt, nicht in festen Worten, sondern als Weg, als Bewegung?

 

Weitere Essays
1

Gilles Deleuze and Félix Guattari, Kafka: Für eine kleine Literatur (trans. Burkhart Kroeber; Auflage: 8.; Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1976), 13.

2

Gilles Deleuze, Foucault (trans. Hermann Kocyba; Auflage: 7.; Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1992), 125.

3

Gilles Deleuze and Claire Parnet, Dialoge (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980), 49.

4

Ibid., 147.

5

Ibid., 55.

6

Gilles Deleuze, Unterhandlungen: 1972-1990 (trans. Gustav Roßler; Auflage: 4.; Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1993), 246.

7

Gilles Deleuze and Félix Guattari, Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie 2 (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1977), 485.
viiiIbid., 279.

8

Ibid, 279.