Uhrmaschinen, Hühnersuppe und Farluška
Da haben sich zwei gefunden. Das sind jeweils schon ziemlich viele. Wer ob solch schizophrenen Sätzen seine schwierigen Bücher hervorkramt, sei beruhigt. Es geht nicht um den millionsten Zwieback der deuleuzoguattarianischen Tausend Plateaus, sondern um die St.Galler Compagnie Buffpapier, die mit der Inszenierung von Jelisaweta Bam des russischen Autors Daniil Charms (bürg.: Daniil Ivanovič Juvačëv, Leningrad, 1905–42) neue Sachen ausprobiert.
Das gelingt ohne Frage, denn das unter Stalin verbotene Theaterstück ist wie dafür geschaffen, von dieser Truppe interpretiert zu werden. Der im Psycho-Knast verendete Autor suchte im Ungeschriebenen nicht nur zwischen den Zeilen die Groteske – die für ihre clownesken Skurrilitäten bekannten Theater-Aktivisten von Buffpapier arbeiten nach Jahren wunderbar körperbetonter und eher wortloser Aufführungen erstmals mit Text im Sinne von vorgegebenen Dialogen, eindeutiger Referenz usw.
Die absurde Geschichte hat ihre eigene Logik, von einer Art zumindest, die von den Buffpapiers herausgekitzelt wird. Eine nämlich, die keinen wirklich roten Faden kennt (der Autor verzichtet weitgehend auf die Ausschlachtung des Plots, den er zur völligen Dekonstruktion gewisser Realismen aber als Randnote irgendwie beibehält), eine Logik, die weder auf Sinn noch auf Stringenz besteht, die nur eine Compagnie mit Erfahrung in groteskeren Gefilden wirklich konstruieren kann, sei dies als historisch motivierte Erinnerungsarbeit, sei dies als ontologische Frage, was denn das Vergangene genau in der Gegenwart noch verloren hat. Ohnehin, das grosse Uhrwerk tickt.
Zeit ist überhaupt ein zentrales Thema, wie Buffpapiers Co-Regisseurin Franziska Hoby insistiert. In der Realität spiele sie gegen den Autor. Der befreundete Schriftsteller Nikolai Chardschiew erinnert sich: «Charms war nicht für diese Welt geschaffen. Er war zu zerbrechlich, zu zart». Die Umstände konnten für den vielseitigen jungen Avantgardisten wirklich widriger nicht sein. Zu Lebzeiten konnte er einzig Kinderbücher (Kinder liebten ihn, er mochte sie nicht besonders) und einige Gedichte publizieren, seine Stücke fielen der stalinistischen Zensur zum Opfer.
Just in der Zeit um das Jahr 1927, als er Jelisaweta Bam im Rahmen eines verrückten Abends der Künstlervereinigung «Oberiu» (Vereinigung für reale Kunst) uraufführte – einige Tage später wurde es verboten –, endete die Zeit des Triumvirats Stalin-Kamenev-Sinowjew. Deren alter Feind Trotzki wurde aus der Partei geworfen und verbannt, Stalins alte Freunde für bourgeois erklärt und ebenso von der Macht ausgeschlossen, Stalin übernahm schliesslich die uneingeschränkte Alleinherrschaft.
Charms, zu diesem Zeitpunkt gerade mal 23 Jahre alt, war ein extravertierter Zeitgenosse, kleidete sich auffällig im Stil des von ihm bewunderten Sherlock Holmes, und zeichnete sich als Autor durch einen vielschichtigen Humor, kritische Haltung und einen unter diesen Vorzeichen unerwarteten, aber äusserst gewinnbringenden Tiefgang aus. Das klingt dann zum Beispiel so:
Jelisaweta Bam: «Warum bin ich eine üble Missetäterin?»
Pjotr Nikolajewitsch: «Weil Sie keinerlei Stimmrecht besitzen».
Iwan Iwanowitsch: «Keinerlei Stimmrecht besitzen».
Jelisaweta Bam: «Durchaus nicht. Sie können es an der Uhr ablesen».
Das Uhrwerk ist überhaupt eine wiederkehrende Figur, in der Inszenierung der Buffpapiers als kulissengebender Rahmen hervorgehoben. Eine Gesellschaftsmetapher, die aber, ähnlich wie bei Gogols Revisor, dadurch funktioniert, dass in ihr niemand funktioniert. Alle sind verdächtig, laufen Gefahr, denunziert zu werden, denunzieren selbst, haben Angst. Die multiplen Schichtungen, die diese Umstände vermitteln, lassen sich problemlos ins Jetzt transformieren, was man als historische Singularität zu isolieren versucht ist.
Dem Co-Regisseur Stéphane Fratini liegt auch gar nicht daran, ein Stück über den Stalinismus auf die Bühne zu bringen. Jelisaweta Bam wäre zwar sicherlich einige kulturhistorische Habilitationsschriften wert, bei der Inszenierung geht es aber darum, gewisse, wenn man so will «zeitlose» Phänomene in ihrer grotesken Realität zu finden, zu brechen und dem Gelächter preiszugeben, das auf diese Weise unbedingt ein Mittel der Reflexion darstellt.
Papa: «Kopernikus war einer der grössten Gelehrten».
Iwan Iwanowitsch (lässt sich zu Boden fallen): «Auf meinem Kopf, da wachsen Haare».
Pjotr Nikolajewitsch und Jelisaweta Bam: «Ha-ha-ha-ha-ha-ha-ha!»
Papa: «Kaufst du ein Huhn, sieh nach, ob es Zähne hat.
Hat es Zähne, so ist es kein Huhn».
Schon Platon erhielt, als er einst erklärte, der Mensch sei ein federloses, zweibeiniges Wesen, von Diogenes ein gerupftes Huhn gereicht, mit der Note, dass er mit diesem Federvieh seinen Menschen haben könne. Charms’ Groteske geht hierin weiter. Ob das bezahnte Huhn nun einen transhumanistischen Stalin symbolisiert oder vollendeter Nonsens ist, wird den Zuschauenden überlassen und hängt unweigerlich davon ab, wie gerne man Suppe isst.
Fratini träumte schon lange davon, dieses anspruchsvolle Stück auf die Bühne zu bringen. Die französische Gesamtausgabe aus den frühen 90ern – Charms’ Werk wird erst seit der Perestroika publiziert – hilft mit dem ausführlichen Fussnotenapparat bei einem solchen Unterfangen. Nur: Klären kann diese Aufarbeitung nur bedingt, beispielsweise könnte die wiederkehrende Figur Tarakanowna (dt. «Frau Kakerlake») auf die gleichnamige Hochstaplerin aus der Zeit von Zarin Katharina der Zweiten verweisen, doch kann man kaum rekonstruieren, ob Charms mit solchen Kniffen auf bestimmte Familien oder Personen im Leningrad der 20er-Jahre anspielt, so Fratini. Es gilt herauszuschälen, was auf anderen Ebenen darüber hinaus bestehen bleibt, und das ist mehr als genug. Eine orthodoxe Inszenierung wäre ohnehin unmöglich.
Das erlaubt auch Spielraum für Interpretationen: Beispielsweise weiss niemand genau, wie ein «Farlüschen» dargestellt werden soll. Ein Zeitgenosse Charms’ weiss: Die oberiutische Wortschöpfung «farluška» bezeichnet «Gegenstände ‹ungeklärter Funktion›». So klemmt Jelisaweta in der Inszenierung der Buffpapiers plötzlich zwischen Styroporwänden, sicherlich Farlüschen, auch wenn man diese metaphorisch als Isolationsmaterial begreift, das die Beteiligten vereinzelt. Eine wahrlich «ungeklärte Funktion» immanenter Macht, der man mit Berührungsangst vor Groteske kaum je entkommen könnte.
Es geht schlussendlich um eine Maschinenphilosophie, deren Bedeutung fürs erste symbolisiert wird durch die Zahnräder und Bolzen der Industrialisierung, in der Kulisse der Buffpapiers passend um eine Axt ergänzt. Vermutlich ist die Entstehungszeit der Jelisaweta ein Raum im Dazwischen, es zeichnen sich die abstrakteren Maschinen, welche die Produktionsweise der Gegenwart auszeichnen, bereits ab, und doch wurde gerade im sowjetischen Realismus, der von Stalin als einzig legitime Kunstform propagiert wurde, die Maschine als (schon nostalgisches?) ästhetisches Symbol des progressivistischen sozialistischen Materialismus nahezu verehrt.
Bei der abstrakten Maschine geht es um gespeichertes Wissen in materiellen Maschinen bis hin zur Frage nach dem Wie der Kooperation in der Gesellschaft überhaupt. Das tickende Uhrwerk, der Beamten- und Polizeistaat – allesamt Machtmechanismen, die losgelöst von der unmittelbaren Materialität viel flexibler und durchtriebener im hegemonialen Neoliberalismus fortbestehen. Ins Zentrum rückt damit die «personnage», also die Anbindung des Subjekts an die Maschine oder anders gesagt: das totale Theater.
Die Inszenierung hätte dem verfolgten Künstler gefallen: Es wird darin ein Kunstverständnis propagiert, das niemals kapituliert, der Takt gebenden Uhrmaschine entgegenkichert, in Verzerrungen, Verwirrungen und Verwechslungen den Humor arbeiten lässt, statt ihn konsumfertig zu servieren, und damit gerade unserer Jetztzeit eine Werkzeugkiste überreicht, die gemessen am Zustand unserer gemeinsamen Welt dringend notwendig ist. Ohne allzu viel Pathos kann man also vorwarnen, dass das Theaterereignis des Jahres bereits im März über die Bühnen geht. Zum vollkommenen Kunstgenuss empfiehlt es sich, zuvor Hühnersuppe zu konsumieren.