Trubel und Therapie
«Ich will ein paar Worte sagen über Demütigung. (…) Die neoliberale Linke war es, welche die arbeitende Bevölkerung gedemütigt hat, die sie einst an die Macht brachte. Nach 30 Jahren der Demütigung haben die Gedemütigten beschlossen, den Hyperdemütiger zu ihrem Präsidenten zu machen – Donald Trump. Er sollte die Demütiger demütigen. (…) Und jetzt haben einige die brilliante Idee, wir sollten Populisten werden, aber linke Populisten. Was soll das heissen? Wir sollten also die Wertvorstellungen der Rassisten übernehmen und in linke Wertvorstellungen verwandeln? Wir sollten die Leidensschreie der Leute verstehen, heisst es. Ich will aber die Demütigung nicht vom Gesichtspunkt der Demütigung für sich selbst begreifen, ich will sie als Ausgangspunkt verstehen für Therapie». — Franco Bifo Berardi, 2017
Jetzt hat das Unsichtbare Komitee wieder ein Buch geschrieben und nennt es «jetzt». Wie immer schon seit dem kommenden Aufstand sagen sie die Wahrheit. Uns geht’s schlecht, sehr schlecht, die Politik ist korrupt und Bullenschweine – wollen wir keine.
«Destituieren wir die Welt!» proklamiert das Buch, das der ewig suspekte Julien Coupat vermutlich wieder nicht geschrieben hat. Es erklärt: «Die Regierung abzusetzen heisst, sich unregierbar zu machen. Wer spricht von Siegen? Überstehen ist alles.»1
Das universelle Unglück, die kierkegaardsche Verzweiflung unserer Gegenwart liegt in der «Unmöglichkeit, hier zu sein, (der) Unfähigkeit, zusammen zu sein – mit…», – so die depressive Skizze des unsichtbaren Komitees einer «Folter des Möglichen», der «Krankheit zum Tode»2. Dagegen müssten wir uns der Ökonomie entziehen, «um in der Welt präsent zu sein». Und so zeitlos wie a l t, konkludieren sie mit der abermalig knapp gehaltenen Proklamation des Kommunismus, eines Kommunismus immerhin, so präsentisch sind sie trotz alldem geworden, der hier und eben j e t z t im Aufstand gelebt werden soll, und keine instituierte Revolution3 in ferner Zukunft bezeichnet.
Mit den jetztzeitigen Manifest liegen weitere hundert Seiten debordistischer Poesie vor, die aus den Schatten spricht, treffsicher die Pathologie der Gegenwart zu bezeichnen vermag, und selbst daran leidend, zwar «Therapie» (d.h. Kommunismus) sagt, allerdings verschweigt, wo diese Kur beginnen und wie sie wirksam werden könnte.
Tiefer gräbt trotz einer leichten Verspieltheit die unter dem Namen Claire Fontaine auftretende kollektive Konzeptkünstlerin aus Paris. Nach einer Notizbuchfirma benannt, ist sie beispielsweise für ihre Readymades bekannt, die aus Buchumschlägen von Debord, Lyotard, Agamben oder Marx bestehen, die aber kein Buch umschliessen, sondern industrienormgrosse Ziegelsteine. In einem vor kurzem publizierten Essay schreibt sie von «Fremden unter uns» und erinnert damit an die subproletarische Masse, das marxsche Lumpenproletariat als Negativ des proletarischen Klassensubjektes, eine sehr nahgelegene Form von Orientalismus, die im Wort «Stadtindianer» ihre brilliante Bezeichnung findet4.
Die Künstlerin erinnert schliesslich an Michel Foucault und dessen bonmot «il y a de la plèbe», worin die Plebs aufhört, soziologische Bestimmung zu sein, und stattdessen beginnt «schlummernde, und doch zur Explosion bereite Potentialität» zu sein. «Was zählt, sind nicht die vom Neoliberalismus besungenen Freiheitsrechte, noch ihre vom Neo-Populismus betriebene Fetischisierung, sondern (…) der Gesichtspunkt der Plebs, der die Machtapparate in den Blick nimmt und die Konstruktion von Strategien des Widerstands erlaubt. D a s pulverisiert jeden Exotismus»5.
Damit können wir beginnen, und wir gehen hierdurch zurück zu Marx.
Einen linkspolitischen Standpunkt kann es nicht geben, ohne die Subsistenz zu denken, und diese fragt nach den Bedürfnissen (was sich schon mal unterscheidet von der Frage nach «Ängsten»; und nach den Sorgen fragt diese im Wortsinn von Therapie, nicht von Pathologie). Wenn wir sonach von Klasse sprechen, erinnern wir vorerst daran, dass dies begrifflich schlicht eine angerufene Menge bezeichnet und das somit der Komplexität vielheitlicher und nomadischer Troubles ohne Weiteres gerecht werden kann.
Wenn Marx Bedürfnisse sagt, tut er dies lapidar, denn er meint damit Hegels praktische Philosophie, die er kritisiert. Und er kritisiert sie durch den Begriff der Klasse. Hegel entwickelt in seiner Rechtsphilosophie ein bürgerliches System der Bedürfnisse, bestehend aus der Arbeitsteilung, die er feiert, und der Policey als Gegenstück, das ersterer zu Erfolg verhilft. Vermitteln soll die Rechtspflege. Wo Hegel ratlos verbleibt über dem Faktum, dass durch dieses System unweigerlich unzufriedene Arme produziert werden, der sogenannte Pöbel, bzw. die napolitanischen Lazzaroni6, greift Marx ein und verschiebt die Chose – wenig kreativ, aber richtig – weg von der Ständegesellschaft, und diskutiert ohne dies so zu nennen bis zu seinem Lebensende ein proletarisches Bedürfnissystem, eine praktische Philosophie von unten.
Die philosophische Ebene von Marx wurde lange nicht wahrgenommen. Aufgedeckt wurde sie neben anderen vom jungen Georg Lukacs, der einem gewissen Ökonomismus schon entsagte, in dem er das Klassenbewusstsein betonte. Etwa ein halbes Jahrhundert später formierte sich um dessen Schülerin Agnes Heller die sogenannte Budapester Schule, die in den 1960er und 70er Jahre unter der Gefahr von Zensur und Inhaftierung (und schliesslich im Exil) an einer Renaissance des Marxismus arbeitete.
Dasjenige Werk der Sowjetdissidentin und Überlebenden der Shoa, das die inzwischen selbstbezeichnete Liberale rückblickend am wenigsten schätzt7 namens «Die Theorie der Bedürfnisse bei Marx»8, ist allerdings dasjenige dieser Gruppe, das heute noch am lehrreichsten darstellen kann, was die marxistische Marxismuskritik der Budapester Schule ausgemacht hat. Indem sie bis anhin nur erschwert zugängliche Marx-Texte (wie die Pariser Manuskripte oder die Grundrisse) den bekannteren Schriften zur Seite stellt, durchleuchtet sie Marxens Schriften nach Bedürfnisbegriffen, welche sich als sehr zentral für dessen Kritik der politischen Ökonomie herausstellen. Die detaillierte Studie rekonstruiert den philosophischen Betrachtungspunkt, der ökonomischen Konzepten um Gebrauchswert oder «Nachfrage» zugrunde liegt.
Schon im Wort «Bedürfnis» selbst schwingen Bedeutungen von Wunsch, Verlangen und materieller Lebensnotwendigkeit mit; aber auch der veraltete Euphemismus für Notdurft, und die ebenfalls nicht mehr geläufige Metonymie von Ungenügsamkeit sind in unmittelbarer Nähe.
Die Frage entspringt direkt daraus: Was ist zum Leben notwendig, welche Wünsche und Verlangen stehen in welcher Beziehung zum Notwendigen o d e r zum Leben und wo beginnt die Ungenügsamkeit jenseits der Notwendigkeit? Verzichtet man darauf, darüber sofort ins Predigen einer «bedürfnisarmen» Askese zu verfallen, zeigt sich die Frage als äusserst komplex.
Marx spricht teilweise von sogenannt «natürlichen Bedürfnissen» um die Sphäre des Notwendigen zu bezeichnen, was aber irreführend ist, da es diese Grenze des vermeintlich natürlich-notwendigen so nicht gibt, und einzig ein hochproblematisches «nacktes Leben» fassen könnte. Heller schlägt vor, pragmatischerweise die Notwendigkeitsbegriffe als Grenzbegriffe trotzdem beizubehalten, um damit subsistenzielle Notsituationen wie Hunger bezeichnen zu können. Hungersnot ist eine natürliche Grenze, umgekehrt ist «kein Hunger» noch lange kein Leben: Subsistenz ist kein natürlicher Wert, das Lebensnotwendige definiert sich äusserst unabhängig – marxistisch gesprochen anhand des Entwicklungsgrades der Produktionsweise; oder in ökologischen Termini anhand des Sozialen, Mentalen und der multispezialen Umwelt.
Hellers Unterscheidung verläuft zuletzt zwischen revolutionären radikalen Bedürfnissen und den manipulierten Bedürfnissen der kapitalistischen Gesellschaft. Die Rede von der Bedürfnismanipulation ist ein Gemeinplatz des Realsozialismus, so finden sich in sozialistischen Enzyklopädien Erklärungen, wonach «in Westdeutschland die Bedürfnisse der Menschen im Sinne der Erhaltung des kapitalistischen Systems manipuliert (werden), der Mensch wird Objekt des Profits, antihumanistische, militaristische Tendenzen und ein schädlicher Prestigekonsum deformieren die Persönlichkeit»9.
Radikale Bedürfnisse gehen einher mit Klassenbewusstsein und markieren den Punkt hervorgebrachter Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft, die von dieser aber nicht mehr befriedigt werden können. «Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen» schreibt Marx im Vorwort zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, und eine radikale Revolution müsse folglich eine Revolution radikaler Bedürfnisse sein10. Diese heben des Weiteren, so Heller, Marxens Widerspruch auf, der zwischen dessen philosophischer Konstruktion des revolutionären Subjekts und seiner Theorie liegt, wonach die Entfaltung der Produktivkräfte automatisch zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft führen würde. Die Theorie radikaler Bedürfnisse sucht das Revolutionäre nicht in einem Status, sondern im Maß der Bewusstheit und in ausgedrückten Inhalten11.
Diese («humane») Offenheit bedeutet nicht, dass alle Bedürfnisse befriedigt werden sollen: ausgeschlossen sind, mit Verweis auf den kategorischen Imperativ, alle quantitativen, die unendlich reproduzierbar sind und deren Befriedigung somit nur für eine Minderheit möglich wäre. Den ethischen Fokus auf die Bedürfnisse zu legen bedeutet weiter, sowohl die kapitalistische Bedürfnismanipulation als auch die Bedürfnisdiktatur des Realsozialismus kategorisch zurückzuweisen.
Radikale Bedürfnisse sind – um dies festzuhalten, nichts anderes – als ein plebejischer Gesichtspunkt, der sich an der komplexen Subsistenz orientiert.
Das Einnehmen eines solchen Gesichtspunktes wurde in der römischen Antike mit dem Begriff cura bezeichnet, zu Deutsch analog: «Sorge» in den Bedeutungen von Problem einerseits (so wie «Sorgen haben») und der Lösung andererseits (so wie «um andere sorgen»). Krankheit und Therapie; Bedürfnis und Befriedigung; Problem und Lösung – die Wortspiele liegen nah: haben wir Sorgen, müssen wir sorgen; Sorgfältige Sorge befreit von Sorgen; Sorglosigkeit aber bezeichnet: Frei von Sorge und Sorgen zu sein / oder: Sorgen zu haben aufgrund mangelnder Sorge / oder: ausbleibende Sorgen aufgrund von Sorge.
Die maskulinistische Geschichtsschreibung hat durch ihre selbstreferenzielle Einseitigkeit zu einer massiven Verzerrung dessen geführt, was cura bedeuten m ü s s t e. Von Bauern über Künstler, Philosophen, Beamten, Militärs bis hin zum Kaiser bezeichnet cura Dinge wie Arbeitskraft, Umsicht, Voraussicht, oder dann eine patriarchal oder herrschaftlich simplifizierte Fürsorge. Cura erwächst also aus der frühesten bäuerlich geprägten Gesellschaft Roms zur männlichen Tugend, welche sich analog zur cura deum in der pietas, dem (frommen) Pflichtgefühl zeigt. Einzig die cura der Liebenden lässt auf eine auch nur ansatzweise Gegenseitigkeit schliessen12.
In den Epen und Mythen finden sich in der Form düsterer Personifizierungen aber auch abwertende, dämonische, explizit weibliche curae. So kann in der Einsamkeit und Finsternis die nubes curarum als Nachtgespenst über die Menschen kommen. In Vergils Aeneis sitzen die curae ultrices, die rächenden Sorgen in ihrem gramvollen Lager am Eingang zum Orkus, auch hier in der düsteren Umgebung von Schreckensgestalten, Krankheit, bekümmertem Alter, Hunger, Furcht und Mangel. Die Sorgen zeigen sich so als Gewissensbisse, Qualen und Ängste13. Von der deutschen Literaturgeschichte werden diese Figuren zusätzlich mit Eberzähnen bewaffnet und als Menschenfresserinnen inszeniert.
In den fabulae des Hyginus fliessen die Bedeutungen zusammen. Da formt die mythische cura aus Lehm einen Menschen und überredet Jupiter, ihm Geist einzuhauchen. Über der Frage, wessen Name das Geschöpf nun tragen soll, entscheidet der schlichtende Saturn: postportem soll dem Jupiter die Seele gehören, nach der Erde (humus) der Mensch benannt werden (in: homo), der Sorge aber, die ihn schuf, würde er zeitlebens gehören14.
Wie man die Sorge auch wendet, unser Leben besteht jedenfalls aus Sorgen u n d aus Sorge.
Mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise entwickelt sich die geschlechterspezifische (misogyne) Sorgeteilung in fortgeschrittener Dynamik. Der Spiess wird gegen die als monströs verklärten sorgenden Frauen gewendet, die Dramatik spitzt sich zu. Der Humanismus als phallische Meistererzählung führt zu gouvernementaler Policey als feuchtem Regierungstraum des Bürgers als Grosskind des römischen Kaisers; die Rutenbündel und das symbolische Henkersbeil regeln Disziplin, Einheit und Strafgewalt (über Leben und Tod). Die einsamen Hexen als Zeichnung veritabler Sorgemonster werden frühzeitig aus dem Weg geräumt um deren Nichten zum Arbeiten zu zwingen – zur Sorgearbeit, die sich der maskulinistischen Sphäre der Produktion unterzuordnen hat.
Wo die bürgerliche Arbeitsteilung aber tatsächlich dazu führte, dass Frauen neben Männern in den Fabriken ausgebeutet wurden, zeichneten sich alsbald grössere Sorgen ab: es wurde befürchtet, dass die Reproduktion das subsistenzielle Niveau nicht mehr bewältigen würde. Die den Frauen zugewiesene Sphäre blieb abermals die soziale Reproduktion, die marginalisierte Sorgearbeit, welche in den souveränen Inseln – des familiären Oikos – mitten in der Disziplinargesellschaft die wahre Basis der Produktionsweise und Staatsraison zu bilden hatte: eine mentale, soziale und environmentale Sorge – der einzige Materialismus, der je auf Füssen stand. Diese doppelt und dreifache Ausbeutung, welche in der klassischen Ökonomie verschwiegen wird, und noch heute in Diskursen um die Märkte so häufig schlichtweg nicht vorkommt, kam auch in der kommunistischen Tradition erst eher spät zur Sprache. Agnes Heller betonte beispielsweise noch den individuellen Charakter der Reproduktion, die Freiheit vom Politischen im Privaten setzt sie höher an als die zeitgleich laut werdenden Diskurse, welche dieses vermeintlich souveräne Private als ideologische Verklärung der Ausbeutung weiblicher Sorgearbeit entzauberten15.
Ab der zweiten feministischen Welle wird der Begriff der sozialen Reproduktion etabliert, Theoretikerinnen des Operaismus wie Mariarosa dalla Costa oder Silvia Federici, die Bielefelder Schule um Maria Mies und die historisch-kritischen Projekte von Frigga Haug zeugen noch heute von dem vorhandenen Gesprächsbedarf, wo kritische Theorien vom Arbeiter zu sprechen geruhen, ohne aber dessen alltägliche Reproduktion zu thematisieren.
Wo also beginnen? Radikale Bedürfnisse als therapeutisch-revolutionäres Potential werden nirgendwo sonst spruchreif als in einer umfassenden Betrachtung der Sorge – (aber auch in einer kritischen Betrachtungsweise des «Kuratierens» im Sinne gewaltsamer Eingriffe in das zu Umsorgende). Sorge alleine ist fähig, Klassenbewusstsein zu schaffen, wo die prekäre Klasse nunmehr verworren erscheint. Die ebenso verworrene Ästhetik der Sorge vermag kraft ihrer Geschichte die phallokratischen Institutionen von Politik, Polizei, Sicherheit und Staatsbürgerschaft als Lügen zu dekonstruieren, so ein Wegfallen der – je prekäreren, desto wilderen – Sorge16 als Bedürfniskategorie des erweiterten irreduziblen Notwendigen unmittelbar fatalste Folgen mit sich brächte. Auf der Schwelle, z w i s c h e n dem dunkeln Oikos und der glanzvollen Polis, sind wir Prekären alle trotz dem unfreiwillig angelernten kompetitiv-idiotischen Narzissmus unweigerlich relational, interdependent und in diesem Sinne – radikal bedürftig. Sorgfältig und bewusst monströs verbleiben wir im Trubel17 der turba, der anarchischen Masse, der verworrenen, wilden, und, so radikalen: potenziell rächend-revolutionären Sorge. Es kommt darauf an, die Krankheit «an der Wurzel zu fassen», bei den wuchernden Hyphae im obskuren Subkommunen zu beginnen, die Sorgen mit Sorge zu therapieren.