Theoretischer Widerstand der Praxis
Prolog
Die großen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts stehen am Rednerpult, die Massen horchen, der Intellekt verurteilt. Es ist die Rede von Missständen, Aufstand, Revolution und Klassenkampf. Die sogenannte Avantgarde ist dagegen, wissen über alles Bescheid und feuern gegen das Bürgertum als Ursprung allen Übels. Große Namen erschaffen sich, große Geschichten entfalten sich. Staatsführern stehen Wortführer gegenüber, das aktive Leben der polizeilichen Unterdrückung, die Ungerechtigkeit wird objektiviert, von außen betrachtet, isoliert – so auch die Involvierten. Ein Diskurs wird aufgebaut, erfunden, gelenkt, es ist der Diskurs über Häftlinge, Frauen, Minderheiten, ethische Grundsätze. Die Intellektuellen füllen die Zeitungen und die Gespräche. Das Vorgehen ist wohlbekannt: man stellt Angesicht zu Angesicht den großen Mann der Masse gegenüber. Man gibt vor, mit diesen beiden Entitäten, diesen Marionetten: dem großen Krustentier und der wirbellosen Masse, Geschichte zu machen.1 Man weiß, was zu tun ist und wie das richtige Leben auszusehen hat, das Ziel ist klar vor Augen: Eine gerechte Welt, ein kommunistisches Paradies oder die freiheitliche Gleichheit. Wer bekämpft werden muss steht genauso im Fokus, es ist die Bourgeoisie, der Faschismus und die tyrannischen Unterdrücker. Eine gute Einheit kämpft für die gute Zukunft.
Umso absurder scheint der Bruch, als neue Wege sich auftun, z.B. als die Groupe d’Information sur les prisons sich formiert um sich gleichsam aufzulösen, einen fruchtbaren Grund aufreißt statt zu bepflanzen, Raum produziert ohne ihn zu füllen. Theorie als Praxis begreifend, wird die Wortführung zerstreut, verkompliziert und zugleich fokussiert, die Differenz ausgehalten. Die potentia der Theorie-Arbeit an den Rändern der sozialen und politischen Sphären. Kein Redelsführer mehr, der den Weg zeigt, sondern die Arbeit am Bruch, an der Veränderung. Die Macht wird produktiv, nicht mehr dualistisch repressiv, gegen den Mythos der dummen Masse, die manipulierten Gesellschaft, das utopische Paradies. Der Kampf gegen den metaphysischen Aussweg kann wieder aufgenommen werden, ein Denken in der Immanenz.
Einleitung
Mit dieser kurzen Arbeit möchte ich mich der Frage nähern, wie sich das Verständnis des Widerstands mit Michel Foucault, Gilles Deleuze und Felix Guattari verändert hat im Bezug auf das «intellektuelle Leben». Ich versuche dem Bruch im theoretischen Aktivismus anhand von einigen Texten der üblichen Verdächtigen zu folgen, die in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts publiziert worden sind oder sich darauf beziehen – hole mir aber auch Hilfe bei zeitgenössischen Publikation u.a. von Ralf Krause, Marc Rölli und Maurizio Lazzarato.
Da es sich bei meiner Fragestellung schnell um eine sehr umfangreiche Arbeit handeln kann, beschränke ich mich in der Literatur sowie in der Textproduktion auf das Einfangen von Blitzlichtern und eine schreibende Denkbewegung innerhalb der folgenden Seiten. Diese Bewegung führt mich durch einige Gedanken über die Mikropolitik als Konzept zu der Vermengung von Theorie und Praxis und zum Schluss auf die Frage «Was ist zu tun?». Keinesfalls soll aber die Erwartung an einer umfassenden Begriffs-Erklärung oder Einführung in Mikropolitik als politische Theorie geschürt werden. Ich werde mich strauchelnd durch das thematische Feld bewegen und soviel mitnehmen, wie es mir in dieser Bewegung möglich ist.
Als intensive Begleitung für diese Arbeit stand mir der Anti-Ödipus von Gilles Deleuze und Felix Guattari zur Seite, auch wenn mehr im Dunkeln, anstelle einer Enzyklopädie oder eines Lichtkegels, als ständige Subversion meines Schreibens, als wiederholter Angriff auf festgefahrene Rillen und Muster. Vieles scheint noch zu sehr in der Veränderung begriffen, als dass ich es mit Zitaten und konkreter Signifikation einzufangen im Stande wäre, jedoch (so hoffe ich) sollten diese Affizierungen zwischen den Zeilen spürbar sein.
Mikropolitik: Logik der Macht
«Es heißt zu Unrecht (vor allem im Marxismus), dass eine Gesellschaft durch ihre Widersprüche definiert wird. Das stimmt nur im großen und ganzen. Aus der Sicht der Mikropolitik wird eine Gesellschaft durch ihre Fluchtlinien definiert, die molekular sind.» (GD/FG, Tausend Plateaus, S. 294)
Mit Gilles Deleuze und Felix Guattari treffen zwei Welten aufeinander, welche mit gegenseitigen Aufprall eine ganz neue zu erschaffen im Stande sind – «un troisième homme»2, der schreibt, denkt und arbeitet. Auf der einen Seite ein klassischer Philosoph auf Abwegen, der in produktiv kritischer Form durch die Philosophie-Geschichte reist und gegen das normative «Bild des Denkens» und deren Repräsentationslogik anschreibt.3 Auf der anderen Seite ein aktivistischer Psychologe lacanscher Prägung mit Erfahrung mit marxistischen Bewegungen, der mit La Borde einen Versuch mitgestaltet, die eine psychiatrische Institution neu zu denken vermag. Eine weitere Komponente ist Mai 68, nachdem Widerstand nicht mehr gleich denkbar ist. Auf den Fluchtlinien nach diesem Ereignis entsteht die politische Philosophie von Deleuze-Guattari rund um den Begriff der Mikropolitik.4
Deleuze-Guattari erarbeiten eine Konzeption des Politischen, das sich der traditionellen politischen Philosophie entzieht. Sie schlagen eine Analyse der Gesellschaft anhand des Molaren und Molekularen vor, die sich gegenseitig überlappen und durchziehen – und somit nicht als widersprüchlich dualistisch angesehen werden können – eine Topografie von Strömen und Formen. Dieser, v.a. in der Rezeption vereinheitlichte Konzeption der Mikropolitik ist eigen, dass die Grenzen zwischen Disziplinen der Ethik, Ästhetik und Politik aufgeweicht werden. Die Produktionsweise des Postfordismus braucht neue Methoden der Analyse des Kapitalismus, der bis zu den sogenannten postrukturalistischen Denkern eher dualistisch, metaphysisch betrachtet wurden. Nicht anhand allgemeiner, von majoritären Standards und Common-sense Auffassungen durchwirkter Kriterien, sondern durch die Analyse konkreter Machtverhältnisse sollen sich die Potenziale für gesellschaftliche Veränderung aufspüren lassen, die Deleuze und Guattari den immanenten Assoziationsweisen von Handlungsgefügen mit ihrer Fähigkeit zuschreiben, alternative Praktiken sozialer Interaktion hervorzubringen.5 Mit der Mikropolitik fließen philosophische Konzepte mit Psychoanalyse und praktischem Aktivismus zusammen, die eine umfassende Logik der Macht beschreibt. Eine angedeutete Genealogie kann im Werk von Deleuze’s Philosophie-Geschichte nachempfunden werden und im Werdegang Guattaris, der seine Konzepte erst später zu Papier bringt. So treffen in dieser Text- Maschine das Konzept der Kräfte von Nietzsche auf die Immanenz von Spinoza vermengt mit Hume, Marx6 und Tarde7. Ganz im Sinne eines Werkzeugkasten bedienen sich Deleuze-Guattari den Begriffen und Konzepten, verdrehen diese, denken sie anders, setzen sie neu zusammen – eine wahrhaft mikropolitische Arbeit. Doch ist die Mikropolitik als Konzept nicht ein autorschaftlicher Genie-Streich zweier großer Männern, sondern eine praktische Theorie aus der Zeit, aus dem Sehen, Hören, Fühlen von Fluchtlinien und Bewegungen, einen Austausch mit Theoretikerinnen und Literatur, mit sozialen Praktiken des Alltags und der Veränderung aufblühten.
Deleuze sieht im Mai 68 das Hereinbrechen eines reinen Werdens8 auf der Seite des Molekularen, das als Kriegsmaschine den molaren Staatsapparat zumindest angreift. Gedacht als Mannigfaltigkeit, die in der Differenz und Wiederholung ständig Neues erschafft und die alten Strukturen umpflügt. Es ist aber mehr als dass ein Ereignis sich in die Zeit einschiebt und wie ein Unfall eine Delle hinterlässt, als Zeichen dieses Ereignisses in der Vergangenheit – im Gegenteil. Das Ereignis aus mikropolitischer Sicht ist eine «singuläre Pluralität»9, ein Leck in der Geschichte, die in alle Richtungen fliehen lässt, die ausläuft und auf ihrer Fluchtlinie Subjektivierungsformen konstituiert und mitreißt. Die Zeitlichkeit spielt keine Rolle mehr im dem Sinne, dass bereits die Differenz irreversibel Einzug hält und sich durch minoritäre Wege zerstreut. Mai 68 ist weniger ein großer Staudamm, der barst, als vielmehr tausend kleine Bäche, die bis heute an vielen Orten auftauchen und verschwinden, es ist eine laufende Maschine von Subjektivierungen. Molekulare Revolution ist die Arbeit an Veränderungen, an Brüchen der Geschichte, an sich selbst. Und auf dieser Fluchtlinie wird getanzt, experimentiert, versucht – die Suche nach einer Waffe.
Felix Guattari schreibt aber es kann keine Revolution geben, ohne die molare Institution auch zu stürzen. So stellt sich für mich die Frage nach dem Verhältnis von molar und molekular, in dem Sinne, dass es nicht klassisch «großes im kleinen» und umgekehrt verstanden werden kann, sondern das Molekulare ist transversal zum Molaren zu verstehen. Was heißt das? Und bei dieser Frage beginnt die Annäherung an diesen Begriff bereits: Im Gegensatz zu der molaren, ontologischen Frage nach dem «Was» gilt es maschinisch zu fragen wie etwas funktioniert. Anstelle von einer Zu- und Einschreibung, einer Übercodierung, die starr auf ihrem Signifikanten beharrt scheint mir die Frage nach der Funktion, nach der Maschine viel brauchbarer. Die Transversalität, ein von Felix Guattari geprägter Begriff, soll beide Sackgassen überwinden: die der reinen Vertikalität und die der einfachen Horizontalität.10 (die beide als molar betrachten sind). Ausgehend von seinen Studien in La Borde entwickelt er folgende Theorie: Es gibt Möglichkeiten, die Koeffizienten der unbewussten Transversalität auf den verschiedenen Ebenen einer Institution zu verändern.11 Anhand von kleinen Veränderungen der «Ordnung» in einer Gruppe (oder einem Sozius) können Botschaften und Subjektivierungen produziert werden, die Einfluss nehmen auf alle anderen Bereiche der größeren Institution. Indem übergeordnete molare Strukturen im Kleinen verschoben werden, verschieben sich diese auch an anderen Orten ihres Einflussbereiches. Die Transversalität bedingt einen molekularen Aktivismus und vice versa.
Wie in der theoretischen Arbeit von Felix Guattari evident wird, ist der Fokus auf die Nutzbarkeit einer Theorie in der Praxis bzw. eine Praxis der Theorie. Theorie ist genau wie ein Werkzeugkasten. Sie hat nicht mit dem Signifikanten zu tun… Sie muss brauchbar sein und funktionieren. Und zwar nicht für sich selbst. Wenn es niemanden gibt, der sich ihrer bedient – angefangen beim Theoretiker selbst, der dann aufhört, ein solcher zu sein–, dann heißt das, dass sie nichts taugt oder ihre Zeit noch nicht gekommen ist. Auf eine Theorie greift man nicht zurück, man stellt andere auf oder hat schon eine.12
Theorie als Praxis
Mit einer Mikropolitik als politische Philosophie kann keine molare Machtform mehr unangetastet und universell betrachtet werden. Die Analyse der Machtverhältnisse macht insbesondere bei der Konstitution von starren Unterdrückungen und Faschismen nicht halt, die durch die Gesellschaft hindurchfließen, v.a. auch bei den Wissensarbeiterinnen und Intellektuellen. Die Rolle der Intellektuellen besteht nicht mehr darin, sich «ein wenig an der Spitze oder ein wenig an die Seite» aller zu stellen, um ihre stumme Wahrheit auszusprechen, sondern vielmehr darin, genau dort gegen die Formen der Macht zu kämpfen, wo er deren Objekt und Instrument zugleich ist: in der Ordnung des «Wissens», der «Wahrheit», des «Bewusstseins», der «Rede». Darum ist die Theorie nicht der Ausdruck der Übersetzung, die Anwendung einer Praxis; sie ist eine Praxis.13 Der Kampf ist nicht mehr im Großen zu finden, sondern in den vielen Mikrofaschismen des eigenen Lebens, der täglichen Praktiken, der Reproduktion von Machtverhältnissen und hierarchischen Strukturen zwischen zwei Polen. Mit dem ersten gemeinsamen Buch Anti-Oedipus versuchten Deleuze-Guattari die Grenzen zu sprengen, die eine intellektuelle Arbeit bis dato umschlossen. Es sollte gleichermaßen ein Werden selbst sein, eine Verschiebung der Philosophie als starres Konstrukt, als Idee zu einer historischen Bewegung, einer kritischen Erfindungskraft. Das Buch erweckt oft den Eindruck, es sei auch da nur Humor und Spiel, wo dennoch etwas Wesentliches geschieht, etwas, das vom allerernsthaftesten ist: die Treibjagt auf sämtliche Formen des Faschismus, ausgehend von jenen kolossalen, die uns umgeben und uns niederdrücken, bis hin zu den winzig kleinen Formen, die die bittere Tyrannei unserer alltäglichen Leben ausmachen.14 Die erfindenden und instituierenden Praktiken sind der einzige Weg die molekulare maschinische Indienstnahme für eine kurze Zeit zu fliehen. So können wir uns dem entziehen, dass wir einen Bestandteil, ein Rad der Maschine bilden, ein für ihr Funktionieren notwendiges Element.xv
Mit dem entfesselten Unterbewussten, der Wunschmaschine, statt dem ödipalen Theater lässt der Anti-Ödipus nicht mehr viel von den Klassenkampffeinden zurück. Aus den großen Kämpfen gegen Unterdrückung, gegen Ausbeutung und gegen die Kapitalisten ist der Kampf um das Unterbewusste, um die Wunschproduktion geworden. Aus der Arbeit gegen Systeme und Strukturen, eine Arbeit an der eigenen Existenz und eine Suche nach verlorenen Subjektivierungsweisen um den Kampf sowohl molekular als auch molar führen zu können. Die Frage nach dem Kampf bzw. der Arbeit mit der Wunschproduktion und Subjektivierung ist dann auch der zentrale Bestandteil von Foucaults Spätwerk und durchzieht die Arbeiten von Felix Guattari fast vollständig.
Epilog
Die leninistische Frage nach dem «Was ist zu tun?» scheint mir eine Befragung der Frage selbst zu sein, der Untersuchung, des Fokus‘. Keinesfalls soll nach Antworten oder Wahrheiten gesucht werden, es gilt Fragen zu stellen, spielend zu experimentieren, Furchen aufzureißen, Fluchtlinien zu folgen. Vielleicht ist aber die Frage selbst als unser Ausgangspunkt, als erster Schritt die entscheidenden Untersuchung: «Was fragen wir?» und «Was tun?» wird zu derselben Frage. Mit Guattari richten wir den Blick unserer Arbeit auf Subjektivierungsprozesse als mögliche Formen des Widerstands16– auf Kriegsmaschinen, die nicht den Krieg zum Ziel haben, wenn sie sich einer Macht gegenübersieht, die über die Dualismen und die Optimierung der Differenzierungen und Individualisierungen waltet17 – auf die ethisch-ästhetischen Formen von Produktion als Bedingungen im postfordistischen Kapitalismus. Wir machen uns an die Arbeit, im Sinne von Foucault: Sich wieder an die Arbeit zu machen, das hieß für ihn «sich wieder vor den Pflug spannen». Eine vollkommene Metapher für ein Unternehmen, das nicht auf die Errichtung eines Systems abzielt, sondern darauf, unablässig den Boden unter unseren Füßen umzugraben, ihn zu öffnen, zu trennen zwischen dem was tot und was fruchtbar in unserer Gegenwart ist. Parallele Furchen, die sich gabeln, die immer wieder zu ziehen sind, die in die erste Spur zurückführen, wieder abweichen, die Erde nackt, aber offen vor unseren Augen zurücklassen – Linien und Labyrinthe, wie die Schrift, eine «vergleichende Archäologie.»18 Das intellektuelle Leben muss gegen sich selbst anschreiben, den Versuch wagen sich ständig zu verschieben, spielend, springend, jauchzend, singend – die kritische Haltung als Tugend19 lebbar gemacht, im Sinne einer produktiven, positiven Flucht, die gleichermaßen erschafft, wie Grenzen verschiebt und Erschaffenes zerstört. Es geht ja, wie Kafka sagt, nicht um die Freiheit, sondern um einen Ausweg.20