Macherey lesen. «Ewigkeit ist die Abwesenheit von Enden»
Über 40 Jahre nach dem französischen Original erscheint im Herbst Pierre Machereys Klassiker «Hegel oder Spinoza» endlich in deutscher Übersetzung. Die Publikation schließt eine Lücke für die Rezeption des französischen Poststrukturalismus: kaum jemand arbeitete so intensiv am Werk Spinozas wie Macherey, dessen unermüdliche Lektüre des holländischen Häretikers (im November wird auf Französisch seine mittlerweile achte Monographie zu Spinoza erscheinen) insbesondere auch der Frage gilt, was uns dieses Denken für die Gegenwart eröffnen kann. Das für transversal übersetzte Vorwort, das 2007 von Michael Hardt und dem Colectivo Situaciones für die argentinische Ausgabe bei Tinta Limón verfasst wurde, dient als mehrfache Situierung dieser Fragen: Was bewegte den «Anti-Hegelianismus» (Deleuze) ab den späteren 1960er-Jahren, den omnipräsenten Hegel des Existenzialismus mit Spinoza zu ersetzen? Was vermag diese Neuorientierung kritischen Denkens zur Reflexion jüngerer sozialer Aufstände und Bewegungen beizutragen? Und nicht zuletzt: Inwiefern verhilft Spinoza unvermindert zur kritischen Betrachtung unserer Beziehungen zum Wissen und dessen Institutionen?
Von Pierre Macherey ist neben Aufsätzen zu Foucault, Deleuze und Spinoza, wie auch dem Beitrag zu Althussers «Das Kapital lesen» auf Deutsch bisher die Monographie «Zur Theorie der literarischen Produktion. Studien zu Tolstoij, Verne, Defoe, Balzac» (1974) erschienen. «Hegel oder Spinoza» ist angekündigt für den Herbst 2019 bei Turia & Kant in Wien.
1. Beim Verfassen dieser Zeilen fühlten wir Spinozas Präsenz. Die Lektüre war das Mittel, um mit ihm zusammenzukommen. Die Erfahrung der Lektüre zwingt uns, die Begriffe umzukehren: die Erfahrung zu lesen, deren Mittel die Lektüre ist. Eine Lektüre, die sich aus Gefühlen speist, die sie begleiten, weil keine aktive Lektüre auf die intime Verbindung zwischen der begrifflichen Ordnung und den Affekten verzichten kann. Spinoza ist vielleicht einer der mysteriösesten – und radikalsten – Namen dieses Ineinsfallens von Begriff und Affekt.
Es ist schon oft gesagt worden: Man kann sich Spinoza nur annähern, wenn man eine Intuition zu erforschen versucht, die in einem bunt gemischten Text voll geometrischer Annahmen gefangen ist. Ein nicht autorisierter Text folgt dem Nächsten, wie auch viele spätere Lesarten nicht autorisiert waren (z.B. die von Asa Heshel1, der mit der Ethik in seiner Tasche zwischen Kriegen umherzog, oder die von Yakov2, dem Mann aus Kiew, der im Gefängnis über das Leben von Spinoza nachdachte): Ohne übertriebene Buchstabentreue galt ihre Aufmerksamkeit eher den Effekten, die durch die Wirkung des Zusammentreffens entstanden.
Mit der Herausgabe dieses Texts von Pierre Macherey möchten wir uns der langen Liste von Philosoph*innen und Nicht-Philosoph*innen (die ohne Profession zu Philosoph*innen außerhalb der Philosophie selbst werden) anschließen, die dieser neugierigen Treue ohne Gehorsam erlegen sind, mit der ein ums andere Mal Wege gesucht werden, die Textfragmente mit der Untersuchung selbst zu verbinden, um sich in ihr zu erneuern.
Vertraute Spinoza im Übermaß auf die Philosophie? Hat er sich mit Körper und Seele dem Begriff und dem rigoros exponierten Wort verschrieben? Schwieg er gerade über seine eigene Beziehung zu den Leidenschaften, denen er sich doch in Lehrsätzen und Scholien so ausführlich widmet? Ist sein Gott ein toter Gott, reine Abstraktion, des Lebens beraubt, wie ihn die Religionen repräsentieren? Die Politik von Spinoza, seine praktische Philosophie, versteckt sich nicht hinter geheimen Details zum Ursprung dieses oder jenes Wortes in einem alten Zeugnis, das noch nicht genügend entschlüsselt wäre. Wenn wir Licht in seine Vorgehensweise bringen wollen, müssen wir auch unsere eigenen Strategien der Fehldeutung bedenken. Seine so radikale Verweigerung des öffentlichen und universitären Lebens, seine einsamen, asketischen Erscheinungsformen würden jede Bedeutung verlieren und nur kraftlose Mythen nähren, wenn er sich nicht aufs Neue dem Getöse einer aktuellen Reflexion über Beziehungsweisen mit Büchern, Worten, dem sozialen Leben, öffentlichen Repräsentationen und politischen Verpflichtungen öffnen würde.
Vor dem Hintergrund der Fortschritte im öffentlichen Leben des Königreichs der Niederlande in jenen Jahren des 17. Jahrhunderts entwickelte Spinoza eine Politik der Umsicht; eine extreme – und schon zu seinen Zeiten berühmte – Klugheit. Seine Vorschläge für eine provisorische Moral hatten zum Ziel, die Mittel für eine philosophische Existenz auf der Höhe seiner Intuitionen zu erschaffen (die damals wie heute – abgesehen von der Spinoza-Mode, von der wir ohne Zweifel unvermindert profitieren – verdammt wurden), ohne mit den Vorurteilen der Epoche zusammenzuprallen. Klar, dass er die Skandale auch auf diese Weise nicht vermeiden konnte: eine jede Epoche definiert sich auch durch ihre Vorurteile. Die Methode der Umsicht liegt nahe, wenn wir sie als notwendige Klugheit und praktische Sorge im Innern jedes Projekts des Ungehorsams anerkennen.
2. Es versteht sich von selbst: die aktuelle Präsenz von Spinoza wäre nicht die gleiche ohne die Lektüre, die uns Gilles Deleuze als wahrhaft philosophisches Medium anbietet. Deleuze äußerte 1969, dass seine Generation französischer Philosophie sich durch einen «verallgemeinerten Anti-Hegelianismus» definierte.3 Er hatte gerade sein großes Buch über Spinoza fertiggestellt, und zweifellos war die Alternative «Hegel oder Spinoza» in seinem Kopf präsent. Deleuze ist sehr klar darin: ein Ja zu Spinoza bedeutet ein Nein zu Hegel. Aber Deleuze bekämpft Hegel nie direkt. Er hält ihn auf Distanz. Sein Anti-Hegelianismus nimmt tatsächlich eine andere Form an: Hegel den Rücken zuwenden.
Pierre Machereys Strategie in seinem Buch Hegel ou Spinoza ist eine völlig andere.4 Um Spinoza lesen zu können, musste Macherey durch Hegel hindurch und aus nächster Nähe mit seinem Denken ringen. Macherey erkennt zunächst, dass das Bild Spinozas in der modernen europäischen Philosophie durch und durch von Hegels Lesart bestimmt war. In seinem Buch arbeitet er nicht nur die entscheidende Rolle von Hegels Spinoza-Lektüre für Hegels System heraus, sondern auch und wichtiger noch die Verzerrungen, die Hegel dem Denken Spinozas auferlegte. Hegel macht Spinoza schlicht zu einer unvollständigen Version seines eigenen Bemühens, das Absolute zu denken, zu einem vornehmen, aber irregeleiteten Vorläufer. Durch seine weitläufige Gegenüberstellung hilft uns Macherey, von den hegelianischen Verfälschungen befreit zu Spinoza zurückzukehren.
Das Verdienst von Machereys Buch liegt nicht nur darin, uns einen Spinoza vor Hegel oder ohne Hegel zu eröffnen, sondern auch einen Spinoza gegen Hegel, gewissermaßen jenseits von oder nach Hegel. Im Zentrum dieses Vorhabens stehen eine Kritik der hegelschen Dialektik und die Suche nach einer alternativen Form des Denkens. Zweifelsohne ist der verallgemeinerte Anti-Hegelianismus in Frankreich, von dem Deleuze sprach, tatsächlich eine anti-dialektische Bewegung, die Figuren wie Deleuze selbst, Foucault, Derrida und Althusser auf verschiedene Weise betrifft. Trotz allem müssen wir bei diesen anti-dialektischen Äußerungen vorsichtig sein, da diese Autoren nicht wirklich gegen die Dialektik in all ihren Formen auftreten. Vor und nach Hegel wurde der Begriff der Dialektik häufig verwendet, um eine einfache relationale Form oder eine dialogische Bewegung des Denkens zu benennen. Wogegen diese Autoren auftreten, ist eine spezifisch hegelianische Dialektik, die charakterisiert ist durch die Aufhebung der widersprüchlichen Begriffe in eine höhere Einheit (Macherey begreift sein Vorhaben in diesem Buch zweifellos als die Suche nach einer nicht-hegelianischen Dialektik). Im Allgemeinen weisen sie die Dialektik zurück im Namen der Differenz. Die hegelsche Dialektik zerstört die Differenz an zwei verschiedenen Punkten: Erstens treibt sie alle Differenzen zum Punkt des Widerspruchs, indem sie ihre Besonderheiten verdeckt; und eben weil die Differenzen zu Begriffen des Widerspruchs entleert werden, ist es möglich, sie in eine Einheit aufzuheben. Macherey erklärt zum Schluss seines Buches bildschön die Konsequenzen des Diktums non opposita, sed diversa: keine Gegenüberstellungen, sondern Verschiedenheiten. Selbst Hegel kritisiert in der Entwicklung seines Begriffs des Widerspruchs die bloße Opposition, Spinoza aber bewegt sich in eine andere Richtung. Der Spinoza, der nach Hegel kommt und zu uns spricht, ist eine Affirmation der singulären Essenzen.
Der akademische Kontext des Kampfes gegen die Dialektik ist sehr präsent für Macherey. Selbstverständlich ist das französische Universitätssystem für Deleuze und die anderen antidialektischen Philosophen dieser Generation offensichtlich geprägt durch einen vorherrschenden Hegelianismus. Für sie heißt die Differenz zunächst eine Befreiung von dieser akademischen Orthodoxie und Hierarchie. Dieser Umstand macht die Anekdote, mit der Macherey sein Buch eröffnet, um die Alternative Hegel oder Spinoza zu definieren, noch köstlicher: Als Spinoza eine Stelle an der Universität Heidelberg angeboten wurde, lehnte er diese ab, weil er der Meinung war, dass eine derartige Beziehung zu Institution und Staat seine Freiheit zu philosophieren beeinträchtigen würde. Als dagegen eineinhalb Jahrhunderte später Hegel eine Stelle an derselben Universität angeboten wurde, akzeptierte dieser enthusiastisch. Spinoza dient uns somit gleichermaßen als Symbol der Differenz und der Freiheit vom akademischen Apparat.
Die hegelsche Dialektik hat für die französischen Autoren dieser Generation auch eine politische Bedeutung. Die Partei-Form und insbesondere die vorherrschende Orthodoxie des dialektischen Materialismus konnten in der Gesellschaft nur Widersprüche erkennen, die Differenzen konnten sie aber nicht akzeptieren. Mit anderen Worten operierte die Partei in der Logik der hegelianischen Dialektik, sie formte alle Differenzen in Widersprüche um und legte dann eine übergeordnete Einheit darüber. Die Zurückweisung einer solchen dialektischen Politik bedeutet eine Affirmation des freien Ausdrucks der Differenzen. Die Affirmation der Singularitäten – die in keiner Einheit aufgehoben werden können – nimmt so im Denken Spinozas einen ausdrücklich politischen Charakter an.
3. Dieses Buch wird zu einem Zeitpunkt und in einem Land ins Spanische übersetzt, in dem unaufhörlich Dilemmas produziert werden, die danach rufen, philosophische Texte wie diesen in ihre Reflexion einzubeziehen. Die Frage der Aktualität steht auch im Zentrum des Problems, das das «Oder» zwischen Hegel und Spinoza platziert. Wenn eine Politik des Denkens dabei hilft, die Fragen zu formulieren, die einen der Thematisierung vor allem in jüngster Zeit verschlossenen Kontext neu eröffnen, kann die Philosophie einer dieser aussagekräftigen Orte sein, die uns bei dieser Aufgabe zu helfen vermögen. Aber kann die Philosophie frei angerufen werden oder müssen wir die Art und Weise respektieren, in der sie sich in ihrer Tradition selbst repräsentiert? Ist es möglich, zu Spinoza zu kommen, nachdem man bei Hegel Halt gemacht hat, oder müssen wir die definitive Überwindung des einen durch den anderen akzeptieren? Ist es möglich, einen Spinoza «nach» Hegel zu denken? Wie können wir heute einen Spinoza wiederfinden, der von der «dialektisierten» Version befreit ist, nach der der Spinozismus ein noch unreifer Hegelianismus oder in sich selbst begriffen eine Karikatur ist?
Macherey will Spinoza von Hegel befreien, vom Prozess der Dialektisierung, dem er unterworfen wurde, durch den gerade das, was an seiner Philosophie am radikalsten ist, abgebrochen wurde. In dieser Verwendung verunklart sich allerdings das Wort Dialektisierung, weil es eine evolutionäre Linie voraussetzt, nach der jeder spätere Moment das Recht erhält, den vorherigen für seine Zwecke zu revidieren. Die dialektisierende Operation besteht darin, dem ein Ende zu setzen, was keines hat, indem sie mit einer definitiven Ausrichtung versieht, was gar keinen Endzweck hat, indem sie die vorhergehenden Momente aneignet (überwinden) , dabei rettet, was ihr für eine neue Affirmation an ihnen nützlich ist (bewahren) und zugleich jegliches Bewusstsein für die nicht reduzierbare Diversität, für den nicht angeeigneten Überschuss verhindert. Die Dialektik versteckt die Leiche nach dem Verbrechen. Sie tritt auf als Unterdrückung von allem, was nicht dialektisierbar ist. Zuletzt schließt diese Idee der Dialektik die offenen Prozesse ab, indem sie die Mannigfaltigkeiten ohne a priori determinierbare Relationen in einer endgültigen Einheit synthetisiert.
Während die hegelsche Zeitlichkeit sich als fortschreitende Dynamik (d.h. als dialektische Evolution) begreift, zeigt sich die spinozistische «Ewigkeit» als Befreiung von jeder vorab festgelegten Finalität: die Dinge entbehren jeglicher Finalität und jeglicher Intentionalität, sie sind keine Subjekte.
Aber die Alternative Hegel oder Spinoza wäre keine, wenn sie nicht auf ihre Weise an einem umfassenderen Dialog teilnehmen würden, in dem jeder für sich selbst eine Art öffentlichen Raum des Denkens definiert. Alle Philosophie ist darin neben den Rest der Philosophien gestellt, und die Operationen der einen und der anderen können darin in sich selbst und im Gegensatz zu den anderen gesehen werden. Ein unendliches virtuelles Gespräch, das schlechterdings nur dann unterbrochen wird, wenn wir aktuelle Fragen einführen, die der Bühne unseres eigenen Lebens entspringen.
Macherey betritt dieses Gelände und löst daraus die Materialien für seine Wiederinstandsetzung des Spinozismus: Wenn man sich «auf die spinozistischen Demonstrationen stützt, die hegelsche Teleologie eliminiert und ebenso diesen fortschreitenden Begriff der Philosophiegeschichte verschwinden lässt, ist die reale Beziehung zwischen Philosophien nicht mehr durch ihren Grad hierarchischer Integration messbar: Und sie ist auch nicht auf eine chronologische Linie reduzierbar, die eine mit der anderen in Beziehung setzt in der Ordnung einer irreversiblen Abfolge.»5
Macherey konzentriert sich auf Hegel als Leser Spinozas. Er kümmert sich nicht um die Totalität der hegelschen Philosophie, sondern um eine Reihe von Fragmenten, in denen Hegels «irrige» Interpretationen des Holländers wahrgenommen werden können. Das Drama präsentiert sich wie folgt: Hegel, der Dialektisierer, dialektisiert Spinoza, den Nichtdialektisierbaren. Der dialektisierte Spinoza verliert alle Kraft seiner Wahrheit, die genau im nicht dialektischen Charakter besteht, nicht reduzierbar auf eine Einheit, zu der vermeintlich alle Vielfalt neige.
Die «Irrtümer» von Hegel als Leser Spinozas deuten folglich nicht bloß auf einen Fehler der Lektüre. Macherey glaubt keine Sekunde an seine Unschuld. Hegel repräsentiert in der Philosophie die Vorliebe für den Widerspruch: «Als Modus des Denkens entspricht dann der Gegensatz auch einer bestimmten Weise des Seins: derjenigen, die endliche Dinge in einer unbegrenzten Reihe koexistieren lässt, in der sie sich gegenseitig begrenzen».6
Das durch Hegels Lektüre Unterdrückte von Spinoza wird durch die Lektüre von Macherey wieder zurückgeholt: die Tatsache, nach der «die Substanz folglich grundlegend vom hegelschen Geist abweicht».7 In der radikalen Philosophie der Immanenz fehlt es nicht an Leben, sondern an Negativität, an Widerspruch als Modell der Bewegung. Es gibt keine Bewegung der Erniedrigung, sondern spontane Existenz und unvermitteltes Miteinander: «Die ‹Passage› der Substanz zum Modus, in dem sie affirmiert wird, ist keine Bewegung einer Verwirklichung oder Manifestation, das heißt, etwas, das dargestellt werden kann in einer Beziehung des Vermögens in actu. Die Substanz ist nicht vor ihren Modi, oder hinter ihrer erscheinenden Realität, wie ein metaphysisches Fundament oder ein rationaler Zustand. In ihrer absoluten Immanenz ist die Substanz nichts anderes als die Handlung des sich Ausdrückens zugleich in allen ihren Modi, d.h. eine Handlung, die nicht determiniert ist durch die Beziehungen der Modi untereinander, sondern im Gegenteil deren effektiver Grund ist».8
Spinoza ausgehend von Spinoza zu lesen impliziert nicht, Hegel zu verkennen. Ausgehend von Marx und von Marcuse bis Holloway können wir mit Lektüren eines «revolutionären Hegel» rechnen. Aber die Befreiung des Spinozismus von jeder Intention der Unterwerfung seiner Sprengkraft erfordert jedes Mal eine aufrührerische Berufung: «Spinoza eliminiert die Konzeption eines zielgerichteten Subjekts, die nicht adäquat ist, sowohl die absolute Unendlichkeit der Substanz darzustellen als auch zu verstehen, wie diese sich unter endlichen Bedingungen ausdrückt. […] Wenn Hegel Spinoza anscheinend nicht immer allzu gut verstanden hat oder ihn nicht verstehen wollte, liegt dies daran, dass Spinoza Hegel andererseits sehr gut verstanden hat, was aus Sicht der Teleologie offensichtlich untragbar ist».9
4. «Sein Alter spielt keine Rolle. Er kann entweder sehr alt sein oder sehr jung. Entscheidend ist, dass er nicht weiß, wo er ist und es ihn nach Aufbruch drängt. Wie im amerikanischen Western springt er auf den fahrenden Zug. Ohne zu wissen, woher er kommt (Ursprung), noch wohin er fährt (Ziel). Unterwegs springt er ab, ein Provinzbahnhof, ein lächerliches Kaff».10
Mit diesen Worten beginnt Althusser sein Porträt des materialistischen Philosophen. Der «Materialist» muss nicht wissen, woher er kommt und wohin der Zug der Geschichte fährt, um seine Geschichten zu entwickeln. Seine Fragen sind von einer anderen Ordnung. Es sind Fragen, die den Modus hinterfragen, in den die Dinge eingepflanzt sind, die versuchen, Sinn zu erschaffen. Ein aleatorischer Materialismus, wie Althusser sagt. Macherey, der in diesem Text nicht verdunkelt, was er ihm verdankt, präsentiert uns hier einen – in diesem Sinne – materialistischen Spinoza: ein Materialismus der Fragen, die neuen Sinn produzieren.
Das gilt vor allem dann, wenn es darum geht, eine alte Frage zu aktualisieren: Was ist eine materialistische Dialektik? Was ist hier und heute eine Dialektik, die in Abwesenheit jeglicher Garantien, in absolut kausaler Art funktioniert, ohne eine vorhergehende Orientierung, die von Anfang an das Prinzip der absoluten Negativität festlegt, ohne das Versprechen, nach dem alle Widersprüche, auf die sie sich einlässt, von Rechts wegen gelöst werden, weil sie die Bedingungen ihrer Auflösung in sich tragen? Die Mannigfaltigkeit ohne Endlichkeit als absolute Prämisse (politische Theorie und Produktivkraft). Die Frage als Operation der Rettung dieser Mannigfaltigkeit, als Akt, der einen Schnitt bewirkt, als radikales Extrem, als echte Gesundheit des Denkens. Folglich geht es nicht bloß um die Philosophie Spinozas, sondern auch und vor allem um den politischen Spinoza. Oder um den «subversiven», wie ihn Toni Negri nennt, wenn er den Begriff der absoluten Demokratie als letzten und radikalsten Sinn aller Philosophie von damals und heute neu erschafft.11 Die Zusammensetzung der Multitude als konstituierender Raum (d.h. Produktion in einem weiten und starken Sinn) ist nicht nur Möglichkeit in der Gegenwart, sondern zugleich Bedingung aller Gegenwart der Kämpfe.
5. 1968 und 200112 sind nicht irgendwelche beliebigen Daten: beide bezeichnen auf unterschiedliche Art und Weise beträchtliche Öffnungen. Von einem Ende dieses Bogens zum anderen wird Spinoza stets kraftvoll und in verschiedenen Nuancen heraufbeschworen. Und in jeder Wiederkehr stellt sich die gleiche Frage beharrlich aufs Neue: Was drückt das Denken Spinozas aus, wenn es einmal befreit ist von allem, was es gefangen hielt, d.h. nicht nur der hegelianischen Dialektik in der Philosophie, sondern auch einer Weise, die soziale Herrschaft durch die Nationalstaaten zu organisieren? Was bleibt von der Kontroverse mit der hegelschen Dialektik und der vollständigen Verschiebung der Formen von Souveränität? Was sagt uns der Spinozismus im Kontext eines kapitalistischen, nicht dialektischen Diskurses, der uns von Pluralismus, freiem Konsum, einem verallgemeinerten Krieg verschiedener Intensitäten und parlamentarischen Demokratien erzählt?
Dies ist eine Frage, glaubt Macherey, die Spinoza und Marx zusammenbringen kann: «Als Marx die berühmte Formel schrieb: ‹Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann›13, war er immer noch völlig dem hegelianischen Evolutionismus untergeordnet. Die darauf folgende Geschichte des Marxismus sollte gerade in ihren Tatsachen zeigen, dass weder ein Problem gelöst noch eine Frage beantwortet wird bloß durch den Umstand, dass sie gestellt wird.
Aber es ist schon etwas, ein Problem zu haben oder eine Frage zu stellen, auch wenn dies in keiner Weise zu einer Lösung oder Antwort führt. Spinoza nach Hegel zu lesen, aber nicht in der Nachfolge Hegels, erlaubt uns, die Frage nach der Möglichkeit einer nicht-hegelianischen Dialektik zu stellen. Aber wir müssen als Spinozist*innen auch zugeben, dass dies uns nicht zur gleichen Zeit erlaubt, eine Antwort zu geben.»14
Die befreite Mannigfaltigkeit und die Verbreitung der Differenzen sind, wie wir wissen, keine konkreten Schlüsse einer Antwort, sondern problematische Begriffe einer Frage.
Zu Spinoza zurückzukehren oder zu Hegel (oder zu den Griechen, zu Marx oder Freud, das spielt keine Rolle): diese Idee einer Rückkehr zu den reinen Ursprüngen des Denkens, in denen das Denkbare für uns abweichende Sünder*innen bereits gedacht wurde, führt uns tatsächlich in die Irre. Es gibt keinen Ort, an den wir zurückkehren können. Wenn die Klassiker*innen – jede*r wählt sich eigene – unter solchen Annahmen herbeigerufen werden, bedeutet dies eine Abschwächung der Möglichkeiten ihres Gebrauchs. Ihre ausschließende Pracht wird uns als absoluter Horizont auferlegt, als wären sie Götter, denen die Vermischung nicht bekömmlich ist, die nicht in der Lage sind zu koexistieren mit der Heterogenität der Situationen und Unruhen, in denen das lebendige Denken sie anruft.
Keine Umkehr zu Spinoza also, auch keine Rückkehr, nur eine Begegnung, die durch gemeinsame Probleme zustande kommt: nicht so sehr das Mannigfaltige gegen das Eine, eher die Neubestimmung des Einen als Mannigfaltiges. Paolo Virno sagt es in bewundernswerter Schlichtheit: das Eine ist Voraussetzung, nicht länger Versprechen.15
6. Wir haben schon daran erinnert: Spinoza hat das öffentliche Bildungswesen abgelehnt. Er wollte nicht eingeschränkt werden durch eine Macht, die ihm Schutz bot. Aber seine Ablehnung hatte zwei Gründe: Einer von ihnen ist in der Tat die Ablehnung, in der Äußerung seiner Gedanken eingeschränkt zu werden. Der andere wird seltener zitiert: Die Lehre behindert «meine eigene philosophische Entwicklung», argumentiert der Holländer, der intellektuelle Tätigkeit außerhalb aller akademischen Restriktionen ansiedelt. Das Denken als eine Dynamik ununterbrochener Forschung verschiebt alle Maßstäbe der bloßen Akkumulation von Wissen und bedingt eine einzigartige existenzielle Erfahrung des Fragens.
Michael Hardt & Colectivo Situaciones, im Dezember 2006. Übersetzung aus dem Spanischen von Michael Grieder, erstpubliziert bei transversal texts.