Die französische Chronik
Nach der Rede des Präsidenten schaut Toni Negri ein weiteres Mal auf die Bewegung der gilets jaunes in Frankreich.
Endlich hat der Fürst Macron gesprochen. Er hat seine Abscheu vor Gewalt ausgedrückt, ein bisschen von der Misere des armen französischen «Volkes» und vom Leid der Familien gesprochen (mein Nachbar sagt: «Geplauder von Vichy!») und dann seine herablassende Rede damit beendet, dass er drei oder vier Dinge versprach, die das Leiden im Jahr 2019 erleichtern würden: Die Erhöhung des Mindestlohns um 100 Euro, der Verzicht, Steuern auf Überstunden zu erheben und schließlich die Aufhebung der vorgesehenen Erhöhungen der bösartigen Steuer des sogenannten «Solidaritätsbeitrags» für die tiefsten Altersrenten. Zum Schluss dann das groteske Sahnehäubchen: die Bitte an die Unternehmer*innen, den Arbeiter*innen zum Ende des Jahres ein Geschenk zu machen!
Der Spott ist offensichtlich. Noch schwerer wiegt aber die Tatsache, dass der Souverän gesprochen hat, ohne die Tiefe des vom Auftauchen der gilets jaunes dargestellten sozialen und territorialen Bruchs und den unwiderruflichen politischen Bruch miteinzubeziehen. Ihre Antwort war natürlich negativ, verächtlich und belustigend. Und auch zur «Gewalt» war ihre Antwort harsch: «Du hast nicht verstanden, dass alleine unsere Gewalt dich gezwungen hat, heute mit uns zu sprechen, während du eine Lösung zu den Problemen suchst, die wir zur Sprache brachten.»
Das ist die wichtigste Frage. Was kann man weiter zwischen den Zeilen lesen? Erstens: Macron hat kaum Zugeständnisse gemacht und doch ist dieses Wenige interessant. Er erhöht den SMIC (ein wachstumsorientierter berufsgruppenübergreifender Mindestlohn) zum ersten Mal ohne explizite Aufforderung durch die Gewerkschaften, sondern lediglich angesichts des sozialen Drucks. Das vertragliche Terrain betreffend der Arbeitskraft hat sich von der Fabrik in die Gesellschaft verschoben, vom Gehalt zur Kaufkraft, soviel anerkennt Macron. Zweitens gibt er ganz beiläufig zu, was er bisher immer bestritten hatte, nämlich, dass das repräsentative System als System zur Vermittlung zwischen Autorität und Gesellschaft, zwischen Staat und Bürger*in, nicht mehr funktioniert. Nach einer Welle von Kämpfen verspricht er nun, dass die Diskussion in Generalversammlungen (bezüglich Steuern, Gesundheit etc.) fortgesetzt werden wird, jedoch bezieht er sich dabei vor allem auf die soziale Vermittlung durch die Bürgermeister*innen. Damit verweist er auf die «föderalistischen» Traditionen der Republik, die bisher immer unterdrückt und nun aus Gründen der Notwendigkeit wiederbelebt wurden.
Bleiben wir bei dieser Passage. Macron muss die soziale Frage stellen. Er versteht, dass es nicht mehr ausreicht, bloß eine Rede zu halten und eine Vermittlung auf institutioneller Ebene zu versuchen. Neben dem Thema des Mindestlohns bringt er die Vervielfältigung der sozialen Vermittlungsinstanzen mit Rückgriff auf den Munizipalismus ein, die Arbeit der Bürgermeister*innen. Selbstverständlich spricht er in verwirrtem Zustand. Tatsächlich wird das, was die institutionelle Propaganda des französischen Staates und die rechte, wie auch die linke Politik immer verweigert haben möglicherweise zur Referendumsfrage und/oder auf die Auflösung und Erneuerung der Kammern hinauslaufen.
Das Zugeständnis Macrons bei den Löhnen als zentrales Element der sozialen Frage ist aber keineswegs verworren. Das ist ein entscheidender Punkt, um die aktuelle Situation zu verstehen. Die gilets jaunes haben sich die gelben Westen übergezogen, weil sie Hunger haben, weil sie Geld brauchen, wegen der Lohnproblematik – und der des sozialen Lohns – das ist grundlegend. Der Financier Macron reisst Isis den Schleier herunter: Der Diskurs wird auf die Kosten der Arbeitskraft, auf die Belastung des Eigentums (um nicht zu sagen «Versteuerung großer Vermögen») verschoben, um ihn etwa vom Notstand in den Kommunen, den er kommen sieht, wegzulenken, d.h. vom Klassenkampf, dem klassenübergreifenden Charakter der gilets jaunes, der nur noch schwer zu verbergen ist. Und schließlich ist für Macron die neoliberale Einschüchterung der EU gegenüber Frankreich, die Schulden nicht mehr als 3% zu erhöhen das nächste, was sich offiziell ankündigen wird.
Betrachten wir auch die neugemischten Karten der Repräsentation, d.h. Macrons Idee, das Funktionieren der Institutionen wiederherzustellen. Wie wir gesehen haben, sind die Bürgermeister*innen angerufen, die Leere auszufüllen, von der die gesellschaftliche Vermittlung derzeit geprägt ist. Aber hier kehrt bloß die Kritik der politischen Ökonomie zurück: Wie können die Bürgermeister*innen dieser Verpflichtung nachkommen, wenn die Kommunen durch die neoliberale Gesetzgebung jeglichen finanziellen Beitrags beraubt und durch die Abschaffung der Wohnungssteuer verarmt sind? Sicherlich hat die Überwindung der Fünften Republik auf die eine oder andere Weise bereits begonnen, doch jedenfalls nicht als föderalistischer Weg (der hier nur den Anschein eines Rettungsrings im offenen Meer macht) sondern vielmehr durch einen autoritären Ansatz, so meine Vermutung. Es geht darum, das «Volk» [il popolo] durch Macht neu zu organisieren; das Macron im Moment einer tiefgreifenden Krise des neoliberalen Programms neu erfinden will.
Wir haben jedoch gesehen, dass Widerstand in dieser Hinsicht stark und schwer zu überwinden ist. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Multitude, die sich bisher in ungeordneter, aber kohärenter Form ausgedrückt hat, mit dem Versuch die konstituierende Macht wiederzuerlangen, nicht wieder das «Volk» von Macron werden möchte. Der Kampf ist eröffnet. Zur Zeit kann niemand sagen, ob sich diese Multitude anstelle eines «Volkes» nicht doch als Klasse repräsentieren will. Macron argwöhnt ihr, fürchtet sie, stellt sie sich als reelle Gefahr vor. Seine wirtschaftliche Antwort (als Financier) und sein «sozialer» Standpunkt (als Patron), erkennen offenbar realistisch, dass dies das Terrain ist, auf dem sich die Konfrontation entwickeln wird.
In den Wochen vor dem 8. Dezember, dem vierten Samstag der Kämpfe, hat das Schweigen Macrons die Entwicklung eines sehr großen Unterdrückungsapparats begünstigt. Die Kampagne gegen die Gewalt des «dritten Tages» (1. Dezember), an dem sich die Polizei umzingelt sah und den Place de l’Étoile nicht mehr verlassen konnte, während Gruppen der gilets jaunes sich in der Metropole ausgebreitet haben, war grausam. Die Empörung der Macht gegenüber der politischen Gewalt der Untergebenen kennt immer solche Spitzen. Natürlich ohne sich dabei dem Problem zu stellen, das alle Experten von Bewegungen (und der Repression der sozialen Bewegungen) beschäftigt: Wie kann man die Bewegung entschärfen, ohne sie zu beherrschen? In Frankreich hat sich der Polizei, durch die glückliche Beziehung, die die (mehr oder weniger sozialdemokratische) Regierung mit mehr oder weniger kooperierenden Gewerkschaften verbunden hat, nie das Problem der Kontrolle über eine autonome Massenaktivität gestellt. Die gilets jaunes haben sie in den Wahnsinn getrieben. Nun wird die (von Macronisten und Nicht-Macronisten) viel gepriesene Reorganisation der Polizei für den «vierten Tag» (dem 8. Dezember) dieses Problem nicht wirklich gelöst haben. Statt zuzuhören und sich aufzuspalten in Teile für und gegen die Bewegung, hat die Polizei ein weiteres Mal auf die hasserfüllte Prävention gesetzt, die bereits tausende Menschen ins Gefängnis brachte. Anschließend kam es zu weitläufigen Zusammenstößen, die zu nichts anderem geführt haben als zur Vergrößerung der Räume, die von Kampf, Hass und Verachtung gegen diesen blindwütigen Einsatz von Gewalt in Beschlag genommen wurden. Während der Vorbereitungszeit für den vierten Protesttag entwickelte sich eine pathetische politische Kampagne, mit der die Regierung «Repräsentation» unter den gilets jaunes einrichten wollte, indem sie «Gute» und «Moderate» unterschied von solchen, die bereit sind, sich dem «Bösen» zu widmen – das heißt der großen Mehrheit der Bewegung, der Multitude «gilets jaunes».
Dies wurde begleitet von besonders kleinlichen (und leider effektiven) Provokationen der faschistischen Rechten, wie jene Anprangerung des Uno-Migrationspaktes von Marrakesch: «Über die Migration», sage die fake news, «verkauft Macron Frankreich an die Vereinten Nationen und erlaubt somit den Einfall afrikanischer Länder in Frankreich.»
Dann kam, wieder von Seite Macrons, die Aufhebung der Treibstoffsteuer, von der alles seinen Anfang nahm. Und diese hat nur Ironie und eine gewalttätige und spektakuläre Ablehnung durch die gilets jaunes hervorgerufen.
Zu bemerken ist – und das ist außerordentlich wichtig – die Wiederaufnahme der studentischen Kämpfe und die erste Demonstration der Frauen von non una di meno1. Die Front der Proteste gegen Macron hat sich also vervielfacht und stratifiziert, es entstehen neue Brutstätten der Kämpfe. Doch auch auf diesem Terrain ist die Repression sehr stark.
Daher ist es wichtig, die kritische Reflexion über das ökonomische Thema zu untermauern, das von den gilets jaunes vorgebracht und von der Regierung aufgenommen wurde, und die Vervielfachung der Initiativen der Bewegung zu betonen von Seiten der Schüler*innen, der Studierenden und der Frauen, die nicht polarisieren, sondern einen «linken Standpunkt» setzen in dieser chaotischen Situation. Angesichts der aktuell schwachen Position dieser Kräfte im großen Bild erscheint es schwer vorstellbar, dass sie auf die Schnelle eine ansehnliche Gegenposition etablieren können. Und doch ist da etwas.
(Es ist jedoch wahrscheinlich, dass diese erste Anhäufung einer linken Gegenposition eine Beschleunigung der Formationsprozesse auf Seiten der gilets jaunes bewirken würde. Wir denken beispielsweise an die Fünf Sterne Bewegung in Italien. Die Situation ist verworren, aber klar ist, dass, bei einem Stoß nach links, von der Macht die Tore für Organisationen eines populistischen Pols geöffnet würden, die einen «souveränen» Weg zur Lösung der gegenwärtigen Krise vorschlagen. Aber das werden wir sehen.)
Aus dem Italienischen für Madame Psychosis via Euronomade von Gina Roder, Michael Grieder und Adrian Hanselmann