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Es gehört eine Menge Mut dazu jung zu sein

21. Oktober 2019, 4387 Zeichen

Lange war ich der Annahme, dass ich, je länger ich mich bildete, lernte, läse, mich austauschte und zuhörte, besser mit der Welt oder dem, was sich uns als Welt präsentiert, leben könnte. Dem ist nicht so. Dem wird auch nie so sein. Täglich wird es schlimmer, wir glauben, uns nicht mehr aus der dunklen, klebrigen und abgestandenen Gegenwart befreien zu können. Bereits zu Tränen betrübt, wenn morgens früh noch im Halbschlaf die News auf dem unerträglich hellen Bildschirm lesend. Horror über Horror. Unerträglich ist die Berichterstattung und die Berichterstattung die nicht unerträglich ist erst recht. Das Leben hätte ich bis anhin ohne «alles kommt gut» sowieso nicht überlebt und eigentlich hatte ich mir, auch wenn ich nie wirklich daran geglaubt hatte und von diesem Konzept nicht restlich überzeugt war, fest vorgenommen, mit einem zynischen Optimismus den Rest meines Lebens zu verbringen. Aber die Zeit rennt gegen jegliche Konzepthaftigkeit der Lebensplanung, eine Dame und einige Herren in Lederjacken hatten es schon vor Jahren festgestellt: time won’t save our souls. Als Teenagerin fand ich das besonders radikal und revolutionär, heute erfasse ich diese Message mit grosser Ernüchterung. So fühle ich mich genau dann, wenn ich die News lese. Meine Toleranz für Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Mord und Totschlag, Gleichgültigkeit und Arroganz wird täglich kleiner. Ich hege grosse Bewunderung für die Klimakids die sich trotz Apokalypse für das Leben und die Gerechtigkeit einsetzen. Keine Ahnung woher sie diese Energie nehmen. Andererseits sind Proteste das einzige, was mir irgendwie das Gefühl gibt, dass die Welt noch am Leben ist. Überall brennt es physisch sowie metaphysisch. Eigentlich wird einem von der Wissenschaft ja über Jahrzehnte eingetrichtert, die Dinge und Ereignisse auseinanderzunehmen, objektiv zu betrachten, nur leider bewegt mich die Stimmung unserer Zeit irgendwie mehr dazu, Posters von Che Guevara und John Lennon an die Wand zu kleben, um dazu traurig Wolf Biermann, Rainhard Fendrich oder Georg Danzer zu hören. Was in den Achtzigern wahr war, ist wieder oder noch immer sehr wahr: «Es gehört eine Menge Mut dazu, jung zu sein.» Die Zeit ist unser Stillstand, eine Spirale aus dem sich die Politik und das Geld  anscheinend nie zu befreien vermögen. Es ist zum Kotzen. Es fehlen mir schlicht die Worte, um beschreiben zu können, was sich da draussen gerade ereignet und vor allem wiederholt. Was im Wege steht wird umgebracht. Darüber entscheiden eigentlich nur noch Erblinge mit Gedankengut das schwer von der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts geprägt ist. Sie sorgen dafür, dass auch die Freiheit der Medien in etwa gleichem Masse im Arsch ist. Mir macht das Angst. Ich finde das irgendwie unzeitgemäss. Ich finde die Regierungen in der ganzen Welt sehr unzeitgemäss. Ich finde es sogar brutal unzeitgemäss, dass es erneut kein Problem ist, sich mitten im „Schiff Europa“ (ha-ha) als StudentIn in ihren Zwanzigern als FaschistIn zu bezeichnen, sich dazu als InstagramerInnen oder VloggerInnen zu profilieren und um Follower zu buhlen. Wenn sich andererseits jemand getraut, sich gegen rassistische Hetze, ungezügelten Kapitalismus, Kriegsführung oder einfach gegen Morden und für bitte mehr Solidarität auszusprechen, warnen die Medien vor Linksradikalen, die Demonstrationen missbrauchen und instrumentalisieren für….was genau? Um kundzutun, dass Sie keinen Bock mehr haben, ihre Steuern für Kriegsführung ausgeben zu lassen, dass Unabhängigkeitsbewegungen als Terrororganisationen gebrandmarkt werden, dass das Morden der ach so wichtigen „Handelspartner“ verschwiegen wird; weil sie das System und die Systeme kritisieren wollen, die nicht nur für die grauenhafte Situation vieler Menschen, sondern ebenso dafür verantwortlich sind, dass die Mütter scheisse bezahlt werden und eine noch beschissnere Rente haben werden, wenn sie nicht sowieso bis 250 ackern müssen. Das Problem ist gross und grösser. Die Übersicht ist schwierig und doch muss sie irgendwie aufrecht erhalten werden. Ein sehr belesener und melancholischer Mensch hat zu mir gesagt, der Optimismus sei zu bewahren, um in dieser Zeit überhaupt noch denken zu können. Das wird wohl wahr sein. Irgendwie müssen wir weitermachen, auch wenn wir das Gefühl haben, schon tot zu sein.

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