Einsame Stille
«Dunkelheit ist komplett in die Landschaft übergegangen und ich stand auf und streckte meine Arme weit über meinen Kopf und ich habe mich gefragt, wie es wohl wäre, wenn dies eine perfekte Welt wäre. Nur Gott weiss es. Und er ist tot.»
David Wojnarowicz – Close To The Knives: A Memoir of Disintegration
You didn’t stop to look ‘round
You were gone before I hit the ground
You went on your way
And no prayer was said
Ah, you left me for dead
You didn’t cover my face
I didn’t merit a communal grave
You set me aside
And no tears were shed
You left me for deadRob Dougan – Left Me For Dead
«Es ist zu mühevoll zu sorgen… Ich möchte nicht zu stark in das Leben anderer Menschen hineingezogen werden… Ich möchte nicht zu nahe kommen… Ich mag es nicht Dinge anzufassen… Deshalb ist meine Arbeit so distanziert von mir», sagte Andy Warhol zwei Wochen nach dem überlebten Mordversuch. Valerie Solanas hatte ihm in der neuen, hippen Factory durch beide Lungenflügel geschossen, durch mehrere Organe, Warhols Geschäftspartner in die Hüfte, dann klemmte die Pistole und sie fuhr mit dem Lift wieder die sechs Stockwerke hinunter in ein rastloses Leben in Isolation und Paranoia. Nach der Festnahme wurde sie deswegen für drei Jahre in psychiatrischer Behandlung eingesperrt, bevor sie wieder durch die Straßen schweifte. Die Autorin des S.C.U.M. Manifest1 wurde 20 Jahre nach dem Attentat in einem Obdachlosenheim in San Francisco tot aufgefunden. Sie starb 14 Monate nach Warhol. Nur für kurze Zeit war Andy Warhol am 3. April 1968 nach seiner traumatischen Begegnung mit Solanas tot, bevor ihn die Ärzte zurück zu den Lebenden holten.2 Seine Tage aber waren von nun an nicht mehr dieselben. Die Isolation kam auch zu ihm, wie sie zu Solanas kam, genauso wie die Paranoia. Zuerst das Trauma der Erfahrung, dass sein Leben plötzlich zu Ende sein konnte und dann ab den 1980er-Jahren, als sein Umfeld, sein Zuhause zum Ort wurde, wo die sogenannte AIDS-Krise ausbrach. Er verkroch sich in seinem Apartment in New York und in seiner schwachen Gesundheit. Die Türe blieb zu. Er überließ anderen das Kunstfeld. Seine Präsenz in der Öffentlichkeit bestand nur noch aus dem Brand Andy Warhol, die Person war verschwunden.
Die andere Welt
Ein Künstler, der sich in den 1980er-Jahren in Manhattan herumtrieb, war David Wojnarowiz3, ab 1987 ACT-UP4-Aktivist der ersten Stunde. Sein Freund und Lebenspartner starb noch im selben Jahr, Wojnarowicz überlebte ihn fast 5 Jahre, bis auch er an AIDS starb. Wie bei vielen Lebensgeschichten schwuler Männer begann die Gewalt gegen ihn nicht erst mit der Stigmatisierung der «Schwulenkrankheit»5. Er wuchs in New Jersey bei seinem Vater und dessen zweiter Frau auf. Es waren die späten US-amerikanischen 1950er-Jahre. Während sich der Vater an seinen Kindern vergriff, sahen die Nachbarn, die Gemeinde geflissentlich auf ihre Wäsche, ihre zu säubernden Autos oder einfach zur Seite. Die Idylle durfte nicht gestört werden. Nichts durchdrang diese Isolation, die durch die strahlende Narration einer perfekten Welt in allen Ecken entstand. Denn die Sicherheit der Einheit, des kontrollierten, richtigen Lebens bedarf der Ausschließung, von dem, was dieses Leben infrage stellen könnte. Die Gewalt, die ihm angetan wurde, war nur Dank der um ihn herum erschaffenen Stille möglich. Das Aufwachsen und die Zukunft von diesem Jungen beschrieb eine Arbeit Wojnarowicz’, die er einige Jahre später an sein jüngeres Ich adressierte:
«Eines Tages wird dieser Junge größer werden. Eines Tages wird dieser Junge etwas erfahren, was in ihm so ein Gefühl hervorruft, als würde die Welt aus ihren Angeln gehoben. Eines Tages wird dieser Junge an einen Punkt kommen, an dem er eine Teilung spürt, die nicht mit Mathematik zu tun hat. Eines Tages wird dieser Junge fühlen, dass sich in seinem Herzen und Hals und Mund etwas regt. Eines Tages wird dieser Junge in seinem Geist und seinem Körper und seiner Seele etwas entdecken, was ihn hungrig macht. Eines Tages wird dieser Junge etwas tun, was Männer, die Uniformen von Priestern und Pastoren tragen, Männer, die in bestimmten steinernen Gebäuden leben, dazu veranlassen wird, lautstark seinen Tod zu fordern. Eines Tages werden Politiker Gesetze gegen diesen Jungen erlassen. Eines Tages werden Familien ihren Kindern falsche Informationen geben, und jedes Kind wird diese Informationen von Generation zu Generation an seine Familie weitergeben, und diese Informationen sollen das Dasein dieses Jungen unerträglich machen. Eines Tages wird dieser Junge all diese Umtriebe in seiner Umwelt zu spüren bekommen, und durch diese Umtriebe und Falschinformationen wird er gezwungen, Selbstmord zu begehen oder sich in Gefahren zu begeben, damit er hoffentlich ermordet wird, oder aber zu schweigen und unsichtbar zu leben. Oder dieser Junge wird eines Tages den Mund aufmachen. Wenn er zu reden beginnt, werden Männer, die vor diesem Jungen Angst bekommen, versuchen, ihn zum Schweigen zu bringen durch Erwürgen, Faustschläge, Gefängnis, Erstickung, Vergewaltigung, Einschüchterung, Drogen, Fesseln, Gewehre, Gesetze, Bedrohungen, Schlägertrupps, Flaschen, Messer, Religion, Enthauptung und Feueropferung. Ärzte werden erklären, dieser Junge sei heilbar, als ob sein Bewußtsein ein Virus wäre. Dieser Junge wird seine verfassungsmäßigen Rechte verlieren, die ihn vor Eingriffen des Staates in seine Privatsphäre schützen. Dieser Junge wird dann konfrontiert mit Elektroschocks, Drogen und Verhaltenstherapien in Laboratorien, und Psychologen und Forscher werden sich um ihn kümmern. Er wird seine Wohnung, seine Bürgerrechte, seinen Arbeitsplatz und alle erdenklichen Freiheiten verlieren. All dies wird sich in ein oder zwei Jahren ereignen, wenn er entdeckt, dass er den Wunsch hat, seinen nackten Körper auf den nackten Körper eines anderen Jungen zu legen.»
Dieser Text umrahmt das Portrait von David Wojnarowicz als Kind. Keine Warnung, keine Traurigkeit, aber eine kräftige Wut. Er widersetzt sich damit der ihm vorgegebenen Welt, allen Parametern, die unumgänglich sein Leben ausmachten, seinen Aktivismus, seine eindringliche Stimme. Die Vehemenz, die Stimme sind es auch, die nach seinem Tod nachhallten, in den Erinnerungen seiner Freunde hängen blieben. Das geschriebene Wort kann die Stimme nur nachahmen, nur einen Teil davon weitertragen, doch der Teil der Militanz ist fest eingeschrieben in den wohl bekanntesten Zeilen Wojnarowicz’, in denen er sich vorstellt,
« […] wie es wäre, wenn jedesmal, wenn ein Liebhaber, ein Freund oder ein Fremder an dieser Krankheit stirbt, seine Freunde, Liebhaber oder Nachbarn die Leiche nehmen würden und mit einem Auto mit hundert Meilen pro Stunde nach Washington DC fahren würden und durch die Tore vom Weißen Haus schießen würden und mit einem quietschenden Halt vor dem Eingang zum Stehen kommen und ihre leblose Hülle auf die Stufen zu werfen.» 6
Es war nicht nur eine Stimme, sondern ein Schrei für die notwendige Aufmerksamkeit, aus der Isolation auszubrechen. Die Einsamkeit in der Vereinzelung, im Ausschluss und der Isolation erkannte Wojnarowicz in einer Welt, die er «Preinvented World» oder «Other World» nannte, und in die man hineingeboren wurde.7 Eine ungerechte, kalte Welt.
«Die aufgekaufte Welt; die besessene Welt. Die Welt der codierten Geräusche: die Welt der Sprache, die Welt der Lügen. Die verpackte Welt; die Welt der Geschwindigkeit in metallischer Bewegung. Die Andere Welt, wo ich mich immer wie ein Außerirdischer gefühlt habe. Aber es gibt die Welt, wo man die Grenzen der Anderen Welt durch die Imagination verändern und dehnen kann. Aber auch dann ist diese Imagination mit der erfundenen Information der Anderen Welt kodiert. […] Es ist die Distanz des einen Schritts zurück oder des Verlangsamens, die die Andere Welt enthüllt. Es ist die Verschiebung der Erwiderung, die sie das erste Mal enthüllt, weil die Andere Welt mit der Unsichtbarkeit eines Liebhabers in die Blutbahn hineinkriecht. Sie nimmt langsam die Form von Zellen und deren Wachstum an, internalisiert, bis es eine Erweiterung des Körpers wird.»8
Gestorben wird in der einen Welt, die andere Welt aber sprach das Todesurteil. Die vereinzelten Einsamen leben in den beiden Welten Wojnarowicz’9. Dagegen wehrte er sich das ganze Leben lang. Auch als er im Sterben lag, wollte er sich nicht geschlagen geben:
«Ich erinnere mich daran, wie David eine ‹Sterbe-Party› in seiner Wohnung in Chelsea schmiss. Er hat alle seine nächsten Freunde eingeladen und wir standen essend und trinkend herum, während wir ihn anschauten, abgemagert lag er auf dem Sofa im Wohnzimmer und starb vor uns. Dann hatte er aus Versehen Durchfall auf dem Sofa und rannte schreiend ins Badezimmer. Stan Leventhal war dort, sehr krank. Nachdem David sich in die Hosen geschissen hatte, ist Stan gegangen. Da habe ich die grausame Natur von Davids Handlung realisiert. Er wollte alle anderen, die dies in Zukunft haben werden, dazu zwingen, es anzusehen [stare it down]. Keine Verleugnung. Keine Gnade. Er vergaß, dass wir Verantwortungen für die anderen Leute tragen, bis zu dem Moment, wenn wir tot sind. Oder wie Jim sagte: ‹David hat nicht begriffen, dass er nicht der einzige war, der etwas verlor›.»10
Die Erfahrung des Todes ist niemals eine individuell psychologische. Die Erfahrung des Todes ist immer schon kollektiv, indem sie niemals um den eigenen individuellen Tod gehen kann. Sterben ist einsam. Das Sterben um einen herum, durch Gewalt der sichtbaren Vereinzelung und durch die unsichtbar machende Stille: Ein Tod, der bereits im Leben beginnt.
AIDS hieß, bereits tot zu sein. Es ist das Leben, das bereits verloren ist, ausgeschlossen von einer Zukunft. Die Körper sind in der vitalen Welt, die auf ein Weiterleben, ein Überleben gerichtet ist, und werden nicht mehr mitgedacht, wenn es darum geht, sie für Zukünftiges miteinzubeziehen. Sie sind nur mehr kranke Körper, denen jegliches Recht auf Leben als kurze Gegenwärtigkeit abgesprochen wird. Auf der anderen Seite erfahren die kranken Körper eine düstere Einsamkeit, die auf diese Verlassenheit begründet ist, aber auch eine eigene, nicht mehr mit einer solchen Welt verbunden zu sein, die einen einfach sterben lässt. Diese Einsamkeit ist das Gemeinsame in der kollektiven Verweigerung, als schon tot abgeschrieben zu werden. Die Kollektivität wiederum erhält eine Form von Gemeinschaft, die sich parallel zu der Gemeinschaft entwickelt, aus der sie heraus gestossen wird, und somit gleichzeitig einsam bleibt, es gibt keine Kollektivität, die diese Einsamkeit auflösen könnte. Es ist die Gemeinschaft der Einsamen, in der jede*r für sich mit der ständigen Gefahr des Todes einsam bleibt, auch wenn gemeinsam für die Medikation gestritten wird, auch wenn das Kollektiv sich um die Sorge kümmert, dass, wer in dem Kollektiv ist, nicht alleine sterben muss. Es bleiben die einsamen Körper, in denen die Kämpfe um das Überleben stattfinden.
Stille=Tod
Die beiden Welten Wojnarowicz’ sind in etwa das, was Jacques Rancière als «die Aufteilung des Sinnlichen»11 bezeichnet. Die eine Welt ist jene der Polizei, welche benennt, zählt, rastert und aufteilt und die andere Welt ist jene des Politischen, welche gegen diese Benennung, Zählung, Rasterung und Aufteilung Widerstand leistet.12 Es gibt jene Subjekte, welche einen Namen tragen, eine Nummer, eine Kategorie und somit Teil dessen sind, was gemeinhin unter Politik oder unter Sozius, Gemeinschaft usw. verstanden wird. Die polizeiliche Tätigkeit weist ihnen den Subjekt-Status zu. Damit können sie sprechen, Versprechen abgeben und reden: Kommunikation als Produktion von Gemeinschaft. Aus dieser Gemeinschaft der «Gleichen» fallen aber jene heraus, welche keinen Namen tragen, nicht zum Logos der Gemeinschaft dazugehören: «Nicht-Existenzen, die gleichzeitig Existenzen sind.»13 Ihre Rede ist keine, sie ist nur Lärm. Was Rancière bei der Auseinandersetzung zwischen Plebejern und Patriziern vor 2000 Jahren findet, wird mit dem AIDS-Aktivismus wieder an die Oberfläche gespült: Die Frage von Sicht- und Hörbarkeit, von Mitsprache-Recht, Stille und Sagbarkeit. Die Stille der 1980er Jahre, gegen die sich die ACT-UP-Bewegung ab 1987 lautstark wehrt – Silence=Death –, ist eine doppelte Stille. Einerseits ist es die Stille des Ausschlusses, es ist die Stille der Hegemonie. Abweichendes Verhalten taucht gar nicht erst als Rede oder Kommunikation auf, sie ist weder hör-, sicht- noch verstehbar. Somit ist jede Stimme, die diese Stille durchbrechen möchte, nur mehr Lärm. Einerseits erschafft die polizeiliche Stille die polizeiliche Ordnung. Andererseits befindet sich darin der Lärm derjenigen, die ausgeschlossen sind und somit nicht an dieser Ordnung teilhaben können. Erst mit der emanzipatorischen Geste, die Rancière das Politische nennt, ist es überhaupt möglich, aus dieser Stille auszubrechen, jedoch indem die Einsamkeit der Stille abgelegt wird und die herrschaftlichen Verhältnisse auf die eigene Macht übertragen wird. Diese Emanzipation macht es einerseits möglich, sich mitzuteilen, beinhaltet aber den Imperativ der Teilhabe, der wiederum neue Aus- und Einschlüsse produziert. Rancière spricht dabei von der Gemeinschaft, die ein Unrecht vergemeinschaftet und in die Gemeinschaft aufnimmt und damit polizeiliche Aufgaben erfüllt. Dies stimmt für die ACT-UP-Bewegung, die öffentlich eine ganz klare Agenda vortrug: «We have to put drugs into people». Medikamente für erkrankte Menschen. Mitspracherecht bei der Forschung. Hörbarkeit in der polizeilichen Real-Politik. Das sind Angriffe auf das Unrecht, nicht gehört zu werden, nicht wahrgenommen zu werden, nicht zu einer Gemeinschaft zu gehören. ACT-UP hat sich aber auch einfach getroffen, sich in einer (Wahl-)Verwandtschaft in Einsamkeit zusammengeschlossen. Der Austausch von Erfahrungen, die Sorge umeinander und um sich selbst, die Rede, die Pläne, die Demonstrationen, all dies führte nicht dazu, dass sich Menschen, die bei ACT-UP aktiv waren, in die «große», bürgerliche Gemeinschaft einfügten. Sie formten eher eine größere Schnittmenge der Sorgegemeinschaft, die wiederum eine kleinere, einsame, ausfransende und ständig zu produzierende Gemeinschaft schuf. Im Blick auf die medialen und realpolitischen Begebenheiten blieb es stets bei dieser doppelten Bewegung.
Indem ACT-UP sich der Sprache und der Sprechakte bediente, sich diese nahm, produzierte sie einerseits eine abgegrenzte Hör- und Sichtbarkeit, die aus der Einsamkeit herauskam, jedoch wiederum eine neue Einsamkeit in dieser Gemeinschaft schuf. Einerseits durch die immer wieder wuchernde Stille, andererseits in der stets reproduzierten Abweichung und den neuen Ausschließungen. Die Grenzen wurden verschoben, ja, aber nicht aufgebrochen. Die polizeilichen Mechanismen der Vereinnahmungen wiederholten sich, in Form der Menschen, die mit AIDS weiterlebten, in feministischen Kämpfen, in globalen, postkolonialen Kämpfen, die ihrerseits auch Kämpfe für die Behandlung von AIDS, aber auch der Emanzipation und Hörbarkeit blieben.
Eine ganze Generation erkrankte an einem Virus, der bald die gesamte Welt ab Mitte der 1980er-Jahren explosionsartig einnahm. Von den USA aus hatte die Krankheit rund um ACT-UP am meisten Hör- und Sichtbarkeit erreicht, gefolgt von den (Kultur-)Hauptstädten Europas. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass in Manhattan ein optimales Klima für Künstler*innen und alternative Lebensformen vorherrschte, welche in dieser spezifischen Subjektivierung über eine gewisse (wenn auch marginale) Hörbarkeit verfügten. Der Wohnraum war günstig, die Ateliers und Ausstellungsräume boomten, und die Gegenwartskunst fand neben der aufkommenden Club- und DJ-Kultur ein lebendiges Feld. Promiskuitiver Sex war nach der sexuellen Befreiung in Künstlerkreisen tendenziell öfters anzutreffen, auch waren Drogen ein breit verbreitetes Phänomen. Während sich HIV über die ganze Welt ausbreitete und vor allem in der sogenannten «Sub-Sahara-Zone» in Afrika sich viel mehr Menschen mit dem Virus ansteckte, als sonst auf der Welt zusammengerechnet, waren die AIDS-Kranken aus Manhattan die sichtbarsten.
Erst als die Stille den lauten Parolen gewichen war, verstärkte sich die Stille um die anderen Betroffenen: Frauen und den Globalen Süden.14 Die Probleme wurden damit aufgehoben, dass einfache Lösungen präsentiert wurden, um die Stille wieder herzustellen. 1996 verkündete die New York Times «AIDS is over»15. Medial war der Spuk vorbei.16 Die Problematik der Idee des Fortschritts zu einer besseren, gesunderen bzw. zu einer guten Welt, birgt die Gefahr der Blindheit gegenüber jenen, die in Neuerungen keinen Platz haben. So wurden die Kämpfe und Diskurse um die Diskriminierung der Homosexualität mit der Öffnung der Ehe erledigt, die Verantwortung zur Behandlung von AIDS, nachdem HIV-Medikamente in den Umlauf gebracht wurden, auf die einzelnen Personen übertragen und damit den Aktivist*innen jegliche Legitimität, diesbezüglich überhaupt noch etwas fordern zu wollen, abgesprochen. AIDS konnte behandelt werden. Wer aber hatte Zugang dazu, wer war versichert und wer sprach davon, dass die AIDS-Krise überwunden sei? Wohin ist die Stille und der Lärm verschoben worden? Die Verletzlichkeit der Männer war plötzlich zum Thema geworden, schlussendlich aber bei schwulen, weißen, bürgerlichen Männern und homosexuellem Leben nach heteronormativen Mustern stehen geblieben. «Während der AIDS-Krise war die sexistische Ungleichheit der schwulen community überwältigt durch die Notwendigkeiten des Traumas. Männer wurden gefährdet und verletzbar […] Sie brauchten Interventionen in allen Bereichen der sozialen Beziehungen. Sie brauchten die politischen Erfahrungen der Frauen von früheren feministischen und lesbischen Bewegungen, die Analyse der Macht durch Frauen und das emotionale commitment der Frauen für sie. Sie brauchten die Entfremdung der Frauen vom Staat.»17 Aus den ACT-UP-Kämpfen wurden aufs Neue feministische Kämpfe, von einem immer wieder von Neuem geführten dialektischen Kampf um die Verschiebung, hin zu einem feministischen, gesellschaftlichen Widerspruch, zu einem queeren Kampf der Sorge, der sich neu gegen die wiederhergestellte Stille wehren muss. Es galt zudem den verlorenen Boden wieder gutzumachen, der durch den Fokus auf die schwulen, weißen Männer ins Hintertreffen getreten ist. Die Sichtbarkeit des Globalen Südens war abwesend geblieben, genauso wie jene der Frauen und der Armen. Oder wie Gayatri Spivak es treffend formuliert: «Es ist klar, dass arm, schwarz und weiblich sein heißt: es dreifach abbekommen.»18 Denn die Subalternen sind nicht verstummt, sie hatten keine eigene Stimme. Dies heißt aber nicht, dass sie von der Bildfläche verschwunden sind, sie sind nur nicht da, in der polizeilichen Gemeinschaft oder der Politik: In der «Anthropologie, Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie», die sich «auf lange Sicht mit dem Werk der imperialistischen Subjektposition verbinden» wird die «Subalterne Frau […] stumm bleiben wie eh und je.»19 Die subalterne Frau wird theoretisiert und darin zum Subjekt gemacht, in der forschende Suche nach dem Bewusstsein dieses zum Sujet gemachten Objekt der Untersuchung. Spivak drängt darauf, dass damit «wenig gedient ist»20. Die unhinterfragte Position der Forscher*in muss hinterfragt werden. Dabei wird zentral, «dass man den postkolonialen Diskurs mit den besten Mitteln, die [der Diskurs] zur Verfügung stellt, zu kritisieren lernt, anstatt einfach die verlorene Figur der Kolonisierten einzusetzen.»21 Ihr geht es darum, durch die Hinterfragung der Sprecherposition die Konstellation zu befragen und nicht einfach neue Subjekte (im doppelten Sinn «Subjekt» und «Sujet») zu erschaffen. Darin könnten wir auch die Suche nach der Einsamkeit statt jener nach einem Bewusstsein verstehen. Und damit die beiden Welten Wojnarowiczs, die eine Welt der Sehenden, Einteilenden, der Polizei Rancières, und die andere Welt des Politischen, in der Widerstand in der kollektiven Ausgeschlossenheit sich selbst ermächtigt, ohne dabei zur neuen Polizei zu werden. Wenn aber, wie bei AIDS die Sicht- und Hörbarkeit direkt mit der Frage zusammenhängt, ob ganze Kontinente zu einem Diskurs dazugehören oder nicht und nicht nur, ob sie ein eigener Diskurs sind, wird das Gefüge verkompliziert. Dass AIDS seit dem Beginn der AIDS-Krise ab Mitte 1980er-Jahren im sogenannten «Sub-Sahara-Afrika» am schlimmsten wütete und sich dies bis heute nicht geändert hat, stellt aufs Neue die Frage von Repräsentation.
Gentrifizierung des Geistes
Der winzig kleine Virus wird als Eindringling von «Spähern des Immunsystems» lokalisiert und «mobilisiert» die Antikörper-Truppen. Der Virus übernimmt die Macht, und die Anti-Körper versuchen diese wieder zurückzuerlangen, es kommt zum Kampf, der Kriegsschauplatz ist der Körper. «Das ist die Sprache der politischen Paranoia mit ihrem typischen Misstrauen gegen eine pluralistische Welt.»22 Die kriegerischen Worte wie Angriff, Außen, Außerirdische, militärische Feinde oder Guerilla beschreiben ein Schlachtfeld des Kampfes gegen die Krankheit. So kam dann auch immer wieder die (nicht neue) Idee auf, eine Sperrzone oder Quarantäne einzurichten. Dazu kam es dann aber nicht.23 Die räumliche Eingrenzung fand also nicht statt, sehr wohl jedoch die urbanisierte Ausgrenzung.
Die neoliberale Expansion der Privatisierungswellen und Gentrifizierungen der westlichen Innenstädte korreliert zeitlich mit der AIDS-Epidemie: Die «Säuberungen» der Innenstadt von einsamen, kranken Körpern. Manhattan wurde im wirtschaftlich bankrotten New York City durch Steuererlässe und Investitions-Unterstützung zu der durch und durch gentrifizierten Innenstadt. Für Sarah Schulman ist klar, dass «obwohl es selten so gesagt wird, die hohe Todesrate von AIDS einer der entscheidenden Faktoren in der schnellen Gentrifizierung der meist betroffenen Quartiere in Manhattan war.»24 Einerseits fand der Austausch-Prozess konkret damit statt, dass Arme und Reiche ausgetauscht wurden, durch Aufwertung und Immobilienspekulation; andererseits ist «zwischen A und B etwas passiert. Etwas wurde ausgelöscht. Eine gewisse Wahrheit wurde vergessen und ausgetauscht.»25 Félix Guattari bemerkt dazu in seinem Essay von 1989 zu den drei Ökologien: «So wie monströse Algen in die Lagune von Venedig eindringen, so sind die Fernsehbildschirme mit ‹degenerierten› Bildern und Aussagen bevölkert. Eine Art von Algen, diesmal in den Bereich der sozialen Ökologie fallend, besteht in der Wucherungsfreiheit, welche Leuten wie Donald Trump gewährt wird, der sich ganzer Quartiere von New York, Atlantic City und so weiter bemächtigt, um sie zu ‹renovieren›, die Mieten zu erhöhen und bei dieser Gelegenheit Zehntausende armer Familien zu vertreiben, die mehrheitlich dazu verdammt sind ‹homeless› zu werden, was etwa den toten Fischen in der Umwelt-Ökologie entspricht.»26 Mit Guattari breitet sich eine den Ökologien zugewandte Praxis und Theorie auf drei Ökologien aus: die mentale, soziale und environmentale Ökologie, die ineinander verlaufen. Die Gentrifizierung der mentalen Ökologie nennt Sarah Schulman gentrification of the mind, die parallel zu jener der sozialen Ökologie abläuft. Nicht nur Räume und ganze Städte werden durch neue Bauten und Bewohner*innen übercodiert, es sind Semiotiken, Bedeutungen und Ströme, und gleichzeitig geschieht dies in den Köpfen jener, die in diesen Orten leben. Schulman beschreibt damit, dass die AIDS-Krise gleichzeitig vergessen wurde, wie die Welt, in der diese stattfand. Dass heute mehr Menschen als je zuvor HIV-positiv sind27, zeigt nur die Kraft dieser Übercodierung von Informationen und Menschen an den Rändern, an den Peripherien – Marginalisierung und Verdrängung als Glättung, Rasterung und Herstellung von Ordnung. Neue Welten erschaffen neue Gedanken, neue Leben. Die bestehenden werden überschrieben, verdrängt. Wenn die Gentrifizierung die Gentri an die Stelle der Arbeiterklasse oder der Prekären setzt, dann ist an dem Ort, wo ein Kampf um Befreiung stattfand, nun eine polizeiliche Ordnung. «Heute ist die Geschichte unsichtbar und diese Männer – damals verwundbar – fühlen sich wieder überlegen.»28 Es sind die großen Narrative, die alle anderen zusammenfassend bündeln und ordnen. Die gentrification of the mind hat nach dem 11. September 2001 die Vorgeschichte in Manhattan hinter eine dunkle Wand verschoben und alle damit verbundenen Geschichten, Affektionen und Begriffe. «So gesagt ist 9/11 die Gentrifizierung von AIDS. Der Austausch von Toten ohne Bedeutung mit Toten mit Bedeutung.»29
Auszug aus dem Buch «Die Erfindung der Einsamkeit. Einsame Leben in Einsamen Welten.» von Adrian Hanselmann