zurück

Der kommende Klassenkampf

22. November 2016, 15897 Zeichen

So erwacht man eines Mittwochmorgens, sieht einen eingefrorenen Zattoobildschirm, und nimmt nicht ganz unzufrieden zur Kenntnis, dass die lebenserhaltende Müdigkeit über das hypernervöse CNN-Spektakel gesiegt hat. Mit der Nase über heißem Kaffee und einigen aktivierenden Schlücken wagt man sich schließlich, das Fenster zu aktualisieren, ahnend, was folgen würde: eine gewählte erste Präsidentin der US of A, deren Positionen teilweise so problematisch sind, dass die linke Philosophin Judith Butler im Interview mit der «Faz» eine Opposition quasi ab Tag Eins empfahl.

 

Archetypus verzogener Bengel

Dass hingegen statt diesem Inbegriff von Realpolitik die milliardenschwere Knalltüte Donald «the Frisur» Trump die Wahl gewinnen könnte, war nicht vorgesehen. Weil irgendwie war doch zu Bills Zeiten schon klar, dass Hillary eines Tages eine bessere Präsidentin abgeben werde, da intelligenter, kompetenter, kämpferischer und mit dem Vermögen, vermutlich ein Fünffaches zu arbeiten. Doch diese Frau konnte so viel arbeiten wie sie wollte, ihre Erfahrung wurde ihr als Nähe zum Establishment ausgelegt, ihre unverrückbare Haltung als Gefühlskälte, und ihr Kampfgeist wurde dämonisiert. Bei aller berechtigten Kritik jedoch war darunter keine, die man nicht ihrem Konkurrenten in vielfacher Form hätte anhängen können: Dessen Kampagne bestand darin, die eigenen Schwächen der Gegnerin anzudichten.

Die Gesichtsmuskeln verziehen sich vor Überraschung reflexartig zu einem Grinsen und erstarren sogleich. Die wohl erfahrenste Kandidatin aller Zeiten wurde vom vermutlich größten Vollpfosten aller Zeiten knapp geschlagen, nach Wahlmänner/-Frauen, nicht einmal nach tatsächlichen Stimmen.
Des Kandidaten Gesichtszüge zeigten genauso viel Überraschung. Trevor Noah von der Daily Show entschlüsselt: «Look at his face! Look at that man! That is the face of a man whose bluff has been called and he’s only holding a two!» Überhaupt hat die Sache etwas von einem Pennälerstreich. Allerdings von keinem der sympathischen Sorte. Das «Rich Kid» der Klasse plagt und gängelt solche mit weniger Glück und kriegt Applaus von denen, die gerne dabei wären. Das ökonomische Kapital tut den Rest.

 

I white that I white nothing

Mit einem für beide zu netten Vergleich könnte man sagen: Lisa Simpson wurde also von Eric Cartman düpiert. Nun handelt es sich aber weder um ein College-Drama noch um einen Hatespeech-Contest auf dem Pausenplatz, sondern um Weltpolitik der nächsten vielleicht acht Jahre unter rassistischen, sexistischen und faschistischen Vorzeichen. Darum muss auch von einem Versagen aller gesellschaftlichen Kräfte die Rede sein, zumindest derjenigen, die nicht offen mit dem Ku-Klux-Clan gemeinsame Sache machen wollen. Die Politik, die Medien, das Bildungssystem, sie alle haben ihren gewichtigen Anteil an der Verantwortung zu tragen.
Doch halt! Weil, ja, verdammt: Schuld an dieser Katastrophe ist zuletzt «das Volk», das seinen bemitleidenswerten Willen an der Urne auf diese Weise zum Ausdruck gebracht hat. Diese ohnehin sehr unzeitgemäße Kategorie, von Thomas Hobbes vor einigen hundert Jahren konstruiert, um die Vielheit, die er fürchtete, in eine Einheit zu überführen (was logischerweise niemals geklappt hat), wurde angerufen, und es schrie zurück: «Great again!», «Build a wall!», «Kill that…!».

Und nun tauchen Hakenkreuze auf und fordern auf einem Kontinent, der noch nicht mal annähernd begonnen hat, den Völkermord an der indigenen Bevölkerung und die Sklaverei annehmbar aufzuarbeiten: «Make America white again».

 

Nazi-Tourette statt Safe-Space?

Die Political Correctness, erste These, sei das Problem, man dürfe einfach nicht mehr reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist, so die Trömp-Arena am Freitagabend in flotter Pegidamanier. Moderator Projer streut noch ein Witzchen über das Gendersternchen der SP ein, Qualitätshumor made in Switzerland since Boppeler & Stark aka Dick und Doof. Nun gibt es aber Menschen, die mit Sprache arbeiten. Und so sicher wie ein Schreiner keinen schiefen Tisch abliefert, so sicher müssen diese Menschen sich um sprachliche Exaktheit bemühen. Politische Korrektheit ein Problem? Dann sind es Geometrie und Schwerkraft gleichermaßen.

Selbstverständlich darf man im Herrliberg-Slang völkisches Zeug von sich geben, nur ist das dann eben völkisch. Es gibt keine Sprachpolizei, die einen knebeln wird. Es gibt aber juristische Handhabungen gegen Diskriminierung von Minderheiten. Genau das ist ja der Punkt! Die gleichen großen Fressen, welche dies und das «noch sagen dürfen» wollen, machen Bücklinge in Richtung mächtigerer Personen, denn würde man diese beleidigen, müsste man mit einer Klage rechnen.

Und darin liegt auch schon der ganze Zauber der Kritik an der Political Correctness: Man will nach unten treten können, ohne im Gegenzug auf Augenhöhe eins auf die Fresse zu kriegen. It’s called Rechtsstaat, du blödes Arschloch.

 

Bürger Žižek ist auch ein bisschen «besorgt»

Nächste These: Die Arbeiterklasse fühle sich nicht mehr vertreten und äußere die währschaften Sorgen und Ängste auf diese Weise. Dieser berechtigte Hinweis hat jedoch mehrere zu unterscheidende Ebenen. Eine erste, problematische, wäre die reaktionäre Ebene, bis zu einem gewissen Grad vertreten durch den Philosophen Slavoj Žižek und die Politikerin Sarah Wagenknecht. Zwei äußerst intelligente und verdienstvolle Linke fallen seit einem Jahr vermehrt durch krude Äußerungen bezüglich Merkels Newcomer-Politik auf («Newcomer» ist übrigens eine politisch korrekte Variante der herabwürdigenden Zuschreibung «Flüchtling». Ein schönes Wort, oder?).
Ursächlich ist der folgende Denkfehler: In seinem Pamphlet vom vergangenen Winter mit dem eigentlich vielversprechenden Titel Der neue Klassenkampf sucht Žižek nach Gründen für das Abwandern linker Stimmen in Richtung rechtsaußen. Seine Vermutung: «Linke Tabus» seien schuld, schließlich würde die ganze – nun ja, Political Correctness – europäische Werte untergraben. Die marx’sche kommunistische Emanzipation sei nämlich auch ein eurozentrisches Phänomen.

Der Kurzschluss folgt allerspätestens in der realpolitischen Interpretation durch Wagenknecht: Es ginge darum, mit einer Werte-Diskussion die «besorgten Bürger» abzuholen, die nur mangels Klassenkampf rassistische Positionen in die Parlamente wählen würden.
Letzteres mag sogar stimmen, ersteres ist hingegen brandgefährlich, wie man am Beispiel der Schweiz merken könnte. Sich der Begrifflichkeiten von rechtsaußen zu bedienen, holt keine Wähler*innen zurück, und macht stattdessen die Demokratie kaputt. Seit wie vielen Jahren nun diktiert die völkische Volkspartei den «politischen» Diskurs hierzulande? «Links» wurde im Zuge dieser stetigen Anbiederung zu einem exotischen Traum.

Die richtigere Antwort hat der sozialdemokratische Parteipräsi Christian Levrat gefunden, wenn er in der «Sonntagszeitung» nach der Amiwahl verlauten lässt: «Die Auseinandersetzung mit der populistischen Rechten gewinnt man nicht mit der Diskussion über deren Fremdenfeindlichkeit, sondern mit der Debatte über die soziale Frage. Kurz und provokativ: Die Antwort auf die Fremdenfeindlichkeit ist der Klassenkampf». Dass wir das noch erleben dürfen.

 

Was ist das für 1 Provinz?

Vielleicht hat sich Levrat bereits auf seinen nun verschobenen Talk mit Didier Eribon vorbereitet und dazu dessen Rückkehr nach Reims gelesen. Das «Buch der Stunde», das zwar schon sieben Jahre alt ist, wie Daniela Janser in ihrer genauen Besprechung betont, handelt von einer Art Studienreise des Philosophen und Soziologen zurück ins elterliche Arbeitermilieu, von dem er sich zuvor Jahrzehnte lang distanziert hatte. Die Ignoranz ist gewissermaßen doppelt: Nicht nur, dass der homophobe Vater den Sohn nie verstand, sondern Eribon seinerseits merkt nach dem Tod des Vaters, dass er dessen Welt kaum mehr verstehen kann.

Eribon ist aber nicht Bourdieu und endet keinesfalls bei der bloßen Milieustudie. Die soziologische Empirie, welche per se Mühe hat, Bewegungen und Veränderungen anders als deterministisch zu begreifen, wird also ergänzt durch politische Ästhetik:
«Um eine neue Weltsicht zu eröffnen und neue politische Perspektiven anzubieten, muss man als Erstes die internalisierten Wahrnehmungs- und Bedeutungsmuster sowie die soziale Trägheit, die aus ihnen folgt, aufbrechen». Die Konflikte der Gegenwart haben zwingend einen transversalen Charakter, wie Félix Guattari sagen würde, es geht darum, Begriffe, Subjekte und Institutionen, die für absolut wahr gehalten werden, gewissermaßen zu durchqueeren. Dazu kann die Soziologie nur Stichworte geben, diese sind aber unerlässlich.

 

Gemeinsam kämpfen!

Eribon rekapituliert sein theoretisches und aktivistisches Wirken gegen Ende seines autobiographischen Buches und erinnert daran, wie wichtig es einst war, gegen den hegemonialen Marxismus im linken Paris der 60er -und 70er-Jahre die vermeintlichen Nebenwidersprüche stark zu machen: die Unterdrückungen durch «sexualisierte, sexuelle oder rassische Subjektkonstitutionen». Der Marxismus ist aber in der damaligen Form mehrheitlich verschwunden. Und – fatalerweise – mit ihm auch die gesellschaftliche Kritik der Unterdrückung der Arbeiterklasse.

Warum wir überhaupt zwischen diesen Kämpfen wählen müssen, fragt Eribon rhetorisch. Wenn schon ginge es darum, Diskurse und Theorien zu finden, die es schaffen, «alle Bewegungen aufzunehmen, die neue, unbekannte, überraschende Probleme und Diskurse in die politische Diskussion zu tragen versuchen».
Zu diesem Schluss kommt auch die Philosophin und Aktivistin Angela Davis in einem weiteren aktuellen Buch, das man lesen sollte. Das schöne Konvolut Freiheit ist ein ständiger Kampf versammelt jüngere Interviews, Artikel und Vorträge der nimmermüden Denkerin und thematisiert, wie ihr Lebenswerk überhaupt, Proteste, Knäste, Rassismus, die Frauenbewegung, Intersektionalität und darum selbstverständlich: die Ökonomie.

Davis stört sich an dem inhaltsleeren politischen Diskurs, der nicht einmal mehr erlaubt, von den Arbeiter*innen zu sprechen. Wann überhaupt alle zur Mittelschicht geworden seien? Schließlich könne man sich dennoch der Arbeiterklassen zugehörig fühlen. Occupy hat zumindest eine lange nicht mehr dagewesene offene und öffentliche Diskussion über den Kapitalismus ermöglicht und soll daher als Chance betrachtet werden. Dazu muss die individualistische Ideologie verabschiedet werden, die immer nur nach einzelnen Heroen der Geschichte sucht. Dr. Martin Luther King beispielsweise lernte insbesondere von der kollektiven Bewegung und veränderte sich mit ihr, wie Davis nahelegt.

 

Wir spinnen, wir Römer

Das andere Buch der Stunde, das es im deutschen Sprachraum noch vermehrt zu entdecken gilt, ist ebenso autobiographisch. Zwischen mir und der Welt hat die Form eines nonfiktionalen Briefes des Journalisten und Autoren Ta-Nehisi Coates an seinen Sohn. Thema sind die Vereinigten Staaten und ein Problem, das größer ist als Trump, wenn es auch indirekt damit in Beziehung steht: die strukturelle Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung in den USA von der Zeit der Sklaverei bis heute.

Coates‘ Brief schnürt einem die Luft ab, jagt einem Tränen ins Gesicht und besticht durch äußerste und reflektierte Deutlichkeit. Er schreibt aus Erfahrungen: «Unsere ganze Begrifflichkeit (…) dient nur dazu, zu verschleiern, dass Rassismus eine zutiefst körperliche Erfahrung ist, dass er das Hirn erschüttert, die Atemwege blockiert, Muskeln zerreißt, Organe entfernt, Knochen bricht, Zähne zerschlägt. Davor darfst du nie die Augen verschließen. Du musst dir immer bewusstmachen, dass die Soziologie, die Geschichte, die Wirtschaft, die Tabellen und Statistiken, die Regressionen allesamt mit Wucht auf deinem Körper landen werden».

Von extremen körperlichen Schmerzen erzählt ihm die Ärztin, deren Kind von einem Untercover-Polizisten erschossen wurde. Zuversichtlich ist die gebildete Frau, die einst an Gerechtigkeit glaubte, keinesfalls mehr und vergleicht Amerika mit dem alten Rom: die Glanzzeit sei vorüber, «und selbst diese Glanzzeit sei besudelt: Sie gründete auf den Körpern anderer».

 

The Revolution will be black!

Die Dringlichkeit ist eine alte und sie geht unweigerlich tiefer als die ökonomische. Lebensgefahr ist akuter als Armut, das wussten schon Huey Newton und Bobby Seale der Black Panther Party. Und doch war diesen Aktivisten immer klar, dass die Arbeitskämpfe untrennbar mit ihren Anliegen verbunden sind. Allerdings waren diese Arbeitskämpfe der Black Panther auch Arbeitslosenkämpfe. Deren Analysen haben nämlich schon zu Beginn der 70er-Jahre vorweggenommen, dass große Teile der arbeitenden Klasse ihre Jobs verlieren werden durch Maschinen, Kybernetik, etc. – und sich die herrschende Klasse nicht darum scheren wird.

Die schwarze radikale Tradition der USA war zumeist auch eine klassenkämpferische Tradition, unter der ungünstigen Ausgangslage allerdings, dass die klassische Arbeiterbewegung der Staaten immer wieder eher rechts stand, sprich rassistische Züge aufwies. Nach der Trump-Wahl kann man aus Sicht der Black Lives Matter Bewegung weiter konstatieren: «Nur weiße Menschen waren überrascht darüber, dass weiße Menschen für weiße Vorherrschaft stimmen». So entsetzlich das ist.

Statt solche Aussagen reflexartig zu bestreiten, gälte es, sie richtig zu verstehen. Statt diese Probleme automatisch als typisch amerikanisch abzutun, gälte es, nochmals nachzudenken. Glücklicherweise sind Schusswaffen hier nicht so verbreitet, aber rassistische Polizeigewalt und andere Übergriffe kennen wir auf dem alten Kontinent auch. Und Coates, der sich an diversen feinen Unterschieden in Frankreich erfreute (z.B. dass die amerikanische Herkunft negativer gewichtet wurde als die Hautfarbe), erinnert sogleich an den hässlichen Umgang mit Roma-Familien auf den Strassen Europas.

Die «transatlantische Vergewaltigung», als deren Kinder Coates sich und seinen Sohn begreift, ist in letzter Konsequenz eben auch als europäische (Wirtschafts-)Geschichte zu betrachten. (Man frage Žižek nochmals, was ihn an der Eurozentrismus-Debatte nun so nervt!). Es gilt die Widersprüche gemeinsam zu bekämpfen. Die arbeitende Klasse zurück an den politischen Verhandlungstisch zu bringen und den Rassisten keinen Fußbreit zu lassen, MUSS dasselbe sein.

 

Journalismus! Sic!

Coates schließt mit der Forderung nach Reparationszahlungen, Aufarbeitung, «spiritueller Erneuerung» und einer so ausgelösten «Revolution des amerikanischen Bewusstseins»: der «Versöhnung unseres Selbstbildes demokratischer Vorkämpfer mit den Tatsachen unserer Geschichte».

Pessimismus kann man dem klaren Denker also nicht unterstellen. Aufhorchen lassen darüber hinaus die Äußerungen über seine Arbeit, den Journalismus.

Er erinnert sich: «Sie schenkten mir die Kunst des Journalismus, ein machtvolles Verfahren für Suchende. Ich kam raus aus dem Nebel der Kindheit, wo die Fragen einfach in meinem Kopf gestorben waren. Der Journalismus war für mich ein weiteres Werkzeug der Erkundung, eine weitere Möglichkeit, jene Gesetze zu erkunden, welche meinen Körper fesselten».

Coates weiß es wohl: der (Klassen-)Kampf gegen Unterdrückung, Ideologie und Hass beginnt nicht selten mit (selbst-)kritischer Haltung in den Schreibstuben.

 

Publiziert im November 2016 im Kulturmagazin Saiten.

Weitere Essays