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Depressiver Realismus

09. September 2016, 21177 Zeichen

Lauren Berlant erklärt im Gespräch mit Earl McCabe einige denkwürdige Konzepte und erlaubt so einen umfassenden Einblick in ihr Denken: die brilliante Autorin von «Cruel Optimism» bei Madame Psychosis erstmals in deutscher Übersetzung. Ein Interview mit Lauren Berlant, geführt von Earl McCabe.1

 

 

In unserer Zeit der ökonomischen Krise, der Austerität und der Arbeitslosigkeit erscheint es als besonders wichtig, realistisch zu sein betreffend der objektiven Einschränkungen des Lebens in unserer Welt. Lauren Berlants Versuche, diese Einschränkungen durch den Fokus auf Affekt, Sensibilität und Bewusstsein herauszufordern, öffnen neue und erfrischende Wege, unsere Gegenwart kennen zu lernen. Diese Arten des Engagements verlangen wiederum eine Begegnung mit Formen der politischen Praxis und die Suche nach praktischen Formen der Loslösung, des über die Gegenwart hinaus Gehens. In anderen Worten, ist dieser Prozess des Kennenlernens unserer Gegenwart auch ein Prozess des Fragens, was zu tun ist. Wie können wir uns eine neue Realität ausmalen? Wie können wir unsere Abhängigkeit von nicht-funktionalen Leben überwinden? Und wie können wir Wege erschaffen hin zu etwas Neuem und Besserem?
Earl McCabe: In «Starved» hast Du geschrieben, dass Du aus einer Position eines «depressiven Realismus» schreibst, wobei Du versuchtest, um eine Sache «herumzusitzen», statt dich darüber hinaus zu bewegen. Kannst Du weiter ausführen, was Du mit depressivem Realismus meinst? Schreibst Du noch immer aus dieser Position?
Lauren Berlant: Ist dies der Beginn unseres Interviews? Wir brauchen erst etwas Kontext, denke ich. Meine Karriere habe ich damit verbracht, das kollektive Leben als erfasste (gefühlte/spürbare) Szene affektiver Projektion und Abhängigkeit zu denken, herauszufinden, wie es kommt, dass so ein Gefühl oder Sinn in den Ebenen des Politischen, des Ästhetischen und des Alltags ist. Ich habe mich dafür interessiert, wie sich gemeinsam-sein entwickelt, bewegt, beeinträchtigt (affected) und abgestempelt wird durch normative und juridische Aktivitäten, und währenddessen affektive Infrastrukturen auf dem Boden generiert werden, die eine ziemlich andere Form annehmen als das Offizielle und das Normative, und diese begleiten und manchmal stören.
Das ist es, was ich unter «Sentimentalität» verstehe, wenn ich sage, dass ich eine Trilogie zur «nationalen Sentimentalität» geschrieben habe. Sentimentalität ist nicht nur die rührselige, nostalgische und dümmliche Weise, mit der sie üblicherweise verbunden wird, in der die Menschen sich mit Wunden von gesättigter Sehnsucht und Leid identifizieren, und es ist nicht nur ein Synonym für das Theater der Empathie: Es ist eine Weise der Relationalität, in der Menschen Emotionen benutzen, um etwas Authentisches über sich selbst auszudrücken, wovon sie denken, dass die Welt das willkommen heißen und respektieren sollte; eine Weise, die konstituiert ist durch affektive und emotionale Verständlichkeit, und einer Art von Großzügigkeit, Anerkennung und Solidarität unter Fremden. Eine andere Art dies zu sagen ist, dass ich an einer realistischen Bewertung der Phantasie interessiert bin, insofern das Politische und das Soziale von komplexen und historisch spezifischen affektiven Beteiligungen umspült werden. Wie lernen wir, uns an Abstraktionen wie die Nation, das Gesetz, der sexuellen Identität, den Kapitalismus, usw. anzuschließen (das tatsächliche Sehnen unserer Selbst-Kontinuität damit zu identifizieren)?
Der Essay «Starved» handelt davon, warum Menschen, darunter Theoretiker*innen der Sexualität, dazu tendiert haben, eher von Relationalität und Verwandtschaft zu sprechen, als im gleichen Raum mit der Idealisierung, Störung und Aversion, für die Sex selbst unvermeidlich und so komplex steht, zu verbleiben. «Depressiver Realismus» ist eine Wendung aus der Psychoanalyse. Ich kenne es von Andrew Solomon’s The Noonday Demon, das eine Einschätzung seiner Depression in Beziehung zu den Einschätzungen derselben durch andere Leute und Theorien ist.

Solomon schreibt darin, dass die meisten Leute sich selbst-idealisieren, sich schöner und erfolgreicher imaginieren als sie sind: und er sagt, dass diese Art von Selbst-Optimismus unverfälscht anwendbar ist. Depressive Realisten sind stattdessen sorgfältiger: Ihr Verständnis des Realismus ist nicht dunkel oder tragisch, aber weniger abwehrend gegenüber der Annahme des Unbehagens und der Schwierigkeit des Überlebens in der Welt. Wenn ich also sagte, dass ich als depressive Realistin schreibe, meinte ich, dass ich Unbeholfenheit, Zusammenhangslosigkeit und die Schwierigkeit sehe, in Übereinstimmung mit der Welt im Herzen dessen zu verbleiben, was Leute auch an das Soziale bindet. Was nicht funktioniert, macht keinen Sinn, oder ist plumperweise immer in Begleitung der Phantasien des guten Lebens, oder anderen erläuternden Genres des Optimismus, und die Frage der Phantasie ist zentral hinsichtlich dessen, wie sie Leuten hilft, mit Welten und Situationen verbunden zu bleiben (und Wege zu finden, darin zu gedeihen), die eben auch ziemlich giftig, schwierig, unglücklich oder nur chaotisch sind. Ich betrachte die Weisen, wie Leute das Fortschreiten des Lebens ohne Garantien ertragen. Diese Positionierung fragt – wie mein Blog und mein Buch «Cruel Optimism» argumentiert – «Warum bleiben Leute Leben verbunden die nicht funktionieren?» Da bin ich nicht primär interessiert daran zu fragen, wie die funktionieren könnten; Mich interessiert, wie Phantasien der Zugehörigkeit zusammenstoßen mit den Bedingungen der Zugehörigkeit in partikularen historischen Momenten.
Depressiver Realismus erlaubt eine Berücksichtigung der Nützlichkeit der Phantasie sowohl bei der Aufrechterhaltung als auch bei der Vorstellung alternativer Lebensweisen. Cruel Optimism erzählt einige ziemlich schwierige Geschichten davon, wie Menschen ihren Halt in Welten aufrechterhalten, die nicht für sie da sind.
Ich finde ihren Fokus auf Affekt, als eine, die gegenwärtigen Lebensformen reproduzierende Kraft, äußerst spannend. Es gibt jedoch viele andere Möglichkeiten die Reproduktion zu denken, die orthodoxe marxistische Perspektive schaut nach der ursächlichen Beherrschung durch die bürgerliche Klasse (diese Suche nach einer vorsätzlichen Klasse wird von vielen der Rechten anscheinend ebenfalls geteilt), eine ökonomistische Perspektive würde die Stabilität der Gegenwart auf objektiven Zwängen der Möglichkeit, determiniert durch ökonomische Formen, gründen (d.h. Leute können nicht aufhören zu arbeiten, weil sie dann nicht essen könnten), oder es könnte eine naturalistische Bewertung sein, basierend auf einer evolutionären psychologischen Forschung der grundlegenden menschlichen Natur (Altruismus ist von Natur aus begrenzt, weil sich einige Stanford-Studierende vor der Kamera schlecht verhielten). Warum denkst Du, dass die Untersuchung affektiver und emotionaler Rhythmen des Anschlusses so eine wichtige, wenn nicht überlegene Weise ist, die Geschichte der andauernden Gegenwart zu erzählen?
Ich lernte meine Affekttheorie zuerst nicht von der Psychoanalyse oder der Ästhetik, sondern von Marx, Lukács, Raymond Williams, etc., ich denke also nicht, dass Deine Version dieser alternativen materialistischen oder organizistischen Erklärungen (dass Du damit platzsparend warst, weiß ich), die ganze Geschichte einer einzigen dieser erzählt, soweit die Dynamiken, die diese hier hervorheben, erscheinen, als hätten sie nichts miteinander zu tun als Verdinglichung von Ursache und Wirkung. Ich bin immer an einer Methodologie interessiert, welche die Überdetermination eines Objekts, einer Szene, einer Beziehung verfolgt, welche/s uns erscheint: So ist es meine Tendenz weit und über die Disziplinen hinaus zu lesen.
Auf jeden Fall besagt die marxistische Kulturtheorie, dass in einem historischen Verständnis, das kollektive Verständnis der historischen Gegenwart sich zuerst affektiv zeigt, und erst dann durch Vermittlungen, welche den Leuten helfen oder sie dazu bringen, Welten zu durchqueren, deren Materialität überdeterminiert ist von vielen Prozessen (Produktionsmittel, soziale Beziehung der Produktion, normative Traditionen, etc.). Vermittlung prägt Erfahrung und Vorstellungswelten.

Für mich verbindet der Fokus auf Vermittlung die Ästhetik und das normative Soziale. Das Investieren in gewisse Formen, die Kontinuität des Lebens zu befördern, geht, um bis zu einem gewissen Punkt die Klebrigkeit von Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Energie-Absaugung zu erklären, welche so viel von der Reproduktion des Lebens strukturieren. Es ist kein Projekt, über die Möglichkeiten, wie sich schlecht fühlen (von der Arbeit ermüdet, unzufrieden [disaffected] vom Ausgebeutet sein, entfremdet von den meisten Fremden und Vertrauten) zerstreut wird von Gut-fühl-Phantasie, sondern über die Art und Weisen, wie Phantasien über das gute Leben selbst realistische Bewertungen der Kausalität und des Sozialen wiedervermitteln [remediate], also neue Formen dazu beitragen. Ich argumentiere, dass Affekttheorie in diesem Sinne eine weitere Phase in der Geschichte ideologischer Theorie darstellt.

 

Aber da sind auch andere Beweggründe. Ich beschäftigte mich lange mit sexuality studies, welche ich als auf materielle Weise verbunden gesehen habe, mit dem Begreifen der Arbeit der Nation-Form und Kapitals am Punkt von Produktion und Verbrauch. Subjektivierung, Subjektifikation: Wie sind die infrastrukturellen Aktivitäten des Kapitals in Praxis, Erfahrung und Subjektivität ausgedrückt? Wie wirken sich die Instabilitäten sexueller Nicht-Souveränität aus, im Bezug auf soziale, ökonomische und politische Unsicherheit? Wie verhält sich (eine?) normative arbeitsbezogene Subjektivität (siehe das neoliberale unternehmerische Subjekt, das das Spiel des Systems als Freiheit und Autonomie sieht; siehe das sozialdemokratische Modell der eingeschränkten kollektiven Mobilität in Richtung oben) zu der Reproduktion der Heteronormativität in deren molekularen Form?
Schließlich erwähnst Du die Geschichte der Gegenwart. Marxistische Historiker*innen tendieren dazu, die Gegenwart zu missachten weil die politischen, sozialen und ökonomischen Komplexitäten hinter Offensichtlichem verborgen liegt und alle missachten «Präsentismus» als eine Art flache Engstirnigkeit. Ich wurde zum Teil Amerikanistin, weil, während dem Unterrichten amerikanischer Literatur in den Vereinigten Staaten, merkte ich, dass meine Student*innen dachten, etwas Ontologisches über die Vereinigten Staaten zu lernen – so musste ich das Objekt entfremden, es in seiner Komplexität als Magnet von sowohl Praktiken als auch Phantasien zeigen, und über die Beziehung dieser nachdenken. Dasselbe gilt für die historische Gegenwart. Es ist vonnöten, Genres zu finden, die ihren Bewohnenden ermöglicht, die Beziehung von Ereignis zu Effekt, von Beherrschung zu kreativen Lebenspraktiken, von Normativität zum sozialen Imaginieren einzuschätzen. Ich verstehe das als zentrale Funktion kritischer Theorie oder Kunst, und was auch immer das Selbstverständnis hat, aus sich heraus eine Gegenwart zu machen.
Könntest Du etwas mehr sagen zum Konzept der «Normativität»? Wo kommt es her, und warum denkst Du, dass es so einen großen analytischen Einfluss hat? Wie verbindet es sich mit «realistischen Bewertungen der Kausalität und des Sozialen» welche die Phantasie wiedervermittelt?
Es kommt zur Queertheorie durch Foucault über Georges Canguilhem und dessen Werk Das Normale und das Pathologische. Dessen Wichtigkeit für mich und Michael Warner betraf nicht nur die statistische Norm oder die moralisch/konventionelle Norm, sondern die Praktiken, auf welchen die konventionellen Formen der sozialen Intelligibilität beruhen, welche naturalisiert (naturalized heißt auch eingebürgert) und moralisiert werden. Judith Butler nennt diese regulative Normen. Sie regieren, indem sie für den common sense stehen, indem sie einen stillschweigenden oder scheinbar grundlegenden Sinn des Umfangs und der Angemessenheit des kollektiven Lebens schaffen. In «Sex in Public» wollten wir das Sexualitätsregime, unter dem wir derzeit leben, eher Heteronormativität nennen als Heterosexualität, weil der Punkt nicht war, Leute mit einem bestimmten Muster einer Objektwahl zu attackieren, sondern das ganze soziale Regime, das sich auf dieses Muster stützte, welches die Phantasie des guten Lebens so gründlich ausfüllt und in so vielen Bereichen der sozialen Existenz, dass seine tatsächliche Robustheit die Fähigkeiten zu verkümmern scheint, alternative soziale und ökonomischen Beziehungen und Institutionen der Intimität zu entwerfen, ganz zu schweigen davon, was es bedeuten würde, wenn wir uns mit beliebigen Mustern des Begehrens identifizieren würden. Damals wie heute neigen Leute dazu, die Sexualität als von der Infrastruktur der Nationalität und des Kapitalismus abgeriegelt zu sehen; sie tendieren dazu, ihre Erscheinung in diesem Kontext eher als Skandal, denn als Offenbarung einer aktuellen Situation zu sehen. Normativität und Heterosexualität zu vernähen war ein Versuch, dies zu beheben, sowie ein Versuch, weiterhin radikale politische Kritik mit einer Positivität des Sexes abzustimmen, die nicht pastoral war, welche die Gefährlichkeit und Fremdheit des Sexes nicht abzog.
Ich bin ernsthaft gegen die Reproduktion der Erotophobie; ich bin ernsthaft für den Abbau der heteronormativen Wirtschaft und die rechtliche Hegemonie. Das Ziel ist aber nicht, die Heterosexualität aus der Existenz zu sprengen; sondern sie zu einer Musterung unter vielen zu machen. Aber da es kein kollektives Leben ohne Normen gibt, ist die Frage nicht, wie man als solches post-normativ wird, sondern auf die Dringlichkeit zu antworten, andere Arten von Ankern und Magneten für neue soziale Beziehungen und Lebensformen zu erzeugen [engender],.

Die Psychoanalyse spricht von der Unvermeidlichkeit innerhalb normativer Strukturen «eine Position einzunehmen», aber aus meiner Sicht zeigt das Projekt, sich von toxischen Normen zu lösen, die das Soziale an sich selbst binden in ihren herrschenden Formen, wie dynamisch die normative Reproduktion des Lebens sowohl in subjektiven, als auch in strukturellen Begriffen ist. Bifo Berardi spricht vom Neoliberalismus als eine Antwort auf zunehmend machtvolle Verlangen von Arbeitenden nach sozialer Gleichheit und Demokratie (und es gibt keine Gleichheit in kapitalistischen Begriffen); gleichermaßen sind die «Kulturkriege» Antworten auf die emanzipatorischen Aktivitäten von «people of color», Migrant*innen, und sexualisierten Subjekten. All diese Antworten haben ernsthafte strukturelle Konsequenzen, politisch und ökonomisch und im Sensorium der Lebewesen die davon affiziert werden. Es kommt also darauf an, für eine bessere normative Repräsentationen des Sozialen zu kämpfen, nicht nur weil diese die affektive Zufriedenheit des Gemeinsam-Seins [being-in-common] ermöglichen, sondern weil diese die tatsächliche Infrastruktur, welche Zeit, Gesundheit, Care und Intimität organisiert, affizieren…
Um zu meinen alternativen materialistischen und organizistischen Erklärungen zurückzukommen; ich schätze Deine Kritik, und ich habe diese nur als Karikaturen gedacht. Ich habe versucht, eine Schwierigkeit herauszubringen, oder zumindest eine Unvertrautheit, die viele haben, mit Deinem Schwerpunkt auf Politik im symbolischen Bereich als den materiellen Anliegen gegenübergestellt.

Zum Beispiel: Diskussionen um die Arbeiterbewegung fokussieren heute überwiegend die Art, wie Gewerkschaften Löhne, Sozialleistungen und finanzielle Flexibilität beeinflussen, und weniger auf die Produktion von Solidarität oder Klassenbewusstsein. Im Gegensatz dazu hast Du in Deinem Interview mit dem Variant-Magazin erklärt: «Die Aufgabe für progressive Praxis ist es, symbolisch praktische Infrastrukturen für Alternativität zu entwickeln». Warum denkst Du (oder denkst Du das überhaupt), dass das Konzept der «symbolisch praktischen Infrastrukturen» im herrschenden Diskurs so fremd ist? Inwieweit denkst Du, dass Deine Betonung die Formen der politischen Praktiken ändern die Du unterstützt? Gibt es irgendwelche jüngere Entwicklungen in linker Praxis die Du besonders vielversprechend findest?
Diese Frage ist für mich zu groß, um sie hier wirklich umfassend zu beantworten. Worauf ich hindeute ist dies: Was ist der Zweck von kritisch engagiertem Denken und Praxis, die nicht in einem reformistischem Modus auftreten – z.B. versuchen die derzeitig herrschenden relationalen Infrastrukturen für die Leute weniger schlecht zu machen – aber in einer radikalen Weise, mit dem Ziel zu ermöglichen, was Deleuze neue «Konsistenzebenen» nennen würde, Bewegungsmodi, welche die Bedingungen verschieben und damit auch soziale und subjektive Potenzialitäten. Nun bin ich vulgärer und materialistischer darin, dass ich nicht so sehr wie andere Leute unterscheide zwischen konzeptuellen Modellen des Gemeinsam-Seins und der Arbeit daran, in Verbindung zu bleiben, welche Sozialität involviert, Arbeit welche die zwischenzeitliche Ohnmacht [syncope] beinhaltet, der Abfall vom Gebundensein ans Soziale und dem Wahrnehmen einer Zugehörigkeit. Eine «symbolisch praktische Infrastruktur» erstreckt sich also entlang der konzeptuellen und materiellen Organisation des Lebens: Sie verfolgt, was die Auswirkungen eines Konzepts (jedes Beziehungsfeld, das wie ein Objekt aussieht, würde hier zählen) sein könnten auf die Arbeit des Lebens, was gleichzeitig materiell ist (die Reproduktion des Lebens, wie die politischen Kämpfe) und fantasmatisch (Ideen des Politischen und des Kollektiven in Verbindung zu Phantasien von Wirkung, Sozialität und Lebensgestaltung).
Ich würde wollen, dass es unsere kritische Arbeit ist, Alternativität vorstellbar zu machen, was das Lebenswerte miteinbezieht: Die Fehler in der Reproduktion der Beziehung von Effekt zu Ereignis, von Ursache zu Wirkung, von Wert zu Arbeit aller Art zu bewegen. Ich würde darauf abzielen wollen, Gleichheit als radikal lebende kontingente Beziehung wiederzuvermitteln und nicht nur als Prozess einer autoritären Umkehrung (die Geschichte davon, wer an der Spitze ist und wer beherrscht). Ich will nicht annehmen, dass x Beziehung zu y hinführt, oder in y ausgedrückt ist; mein Ziel ist nicht daraus zu schließen, dass die Totalität diese oder jene Gestalt hat; ich will sehen was aus der dynamischen Beziehung zwischen dem Vorhersehbaren und dem Unvorhersehbaren zu machen ist (Kapitalismus hat schlussendlich seine eigenen Gattungen der Instabilität, dies ist es, was ihn zu so einem machtvollen Auslöser der Existenz macht, weil er seine eigenen Widersprüche absorbieren kann – bis er es nicht mehr kann, wie im gegenwärtigen Moment). Ich würde wollen, dass unsere Arbeit die Beziehung zwischen Auffassung [prehension] (Geschichte aneignen) und Begreifen [apprehension] (das Potenzial organisieren für neue Erfindungen) neuberechnet, durch das Angehen sowohl der Variationen welche «die Situation managen» als auch derer, die Wege eröffnen, Gesellschaftsformen einzukerben.
Mein Vergleich ist, immer wieder zum sozialistischen Feminismus der zweiten Welle zurückzukehren: Der war nicht nur eine Solidaritätsszene basierend auf der Kritik der politischen Ökonomie der Familie oder des Patriarchats, sondern eine echte Anstrengung im Imaginieren anderer Lebensformen von Beziehungen und Werte, die Wirtschaft und Intimität trennen. Die Autonomen machen nun diese Arbeit der materiellen und emotionalen [visceral] Organisation, wie auch die Queer-Aktivist*innen, und die Anarchist*innen genauso, und es ist wirklich spannend, die Masse der Genre-Durchquerung und Genre-Erfindung, welche auf die Neuerfindung dessen, was es bedeutet, ein Leben zu haben, zurückgeht. Das unterscheidet diese von den Teilen der Arbeiterbewegung, welche sich vorstellten, die Mittelklasse zu vergrößern in einer Art, welche die Armen als Außen der Demokratie reproduziert (dies ist es, was geschieht, wenn Leute die kapitalistischen Formen der unternehmerischen Subjektivität verkennen, die versuchen das System als Praktiken der Gleichheit und der Evidenz der Freiheit zu spielen). Aber die neuen sozialen Bewegungen nehmen nicht Wohlstand, Eigentum, Akkumulation und Verwandtschaft als Grundlagen für ihr Leben. Arbeit und Care neuerfindend, versuchen sie auch die affektive Resonanz um Abhängigkeit zu ändern. In der neoliberalen Normativität heißt abhängig zu sein, nicht-souverän zu sein: In der Ära der Austerität hingegen ist es der erste Schritt zur Solidarität.

 

 

 

Übertragen für Madame Psychosis von Adrian Hanselmann, Daniel Drognitz und Michael Grieder.

Weitere Essays
1

publiziert in: Hypocrite Reader Issue 5 – Realism, Juni 2011 [hypocritereader.com]