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Depression und Prekarisierung

05. Januar 2017, 11332 Zeichen

Wir müssen davon ausgehen, dass Depression allumfassend ist, unser aller Zellen durchdringt, alle unsere Gedanken durchquert. Zu allen Gassen, Lichtstrahlen, Bilder und Träumen gehört sie dazu, während wir sie selbst nie zu Gesicht bekommen. Wir spüren ihre Präsenz, wenn wir durch die Straßen spazieren, auf den Kieswegen schlendern oder schlafend durch unsere Traumwelten fliegen. Die Depression ist gross und dunkel, wir wissen das, obwohl wir sie noch nie gesehen haben. Sie zerrt an unseren Händen und Haaren, drückt in unseren Magen, verpfuscht uns die Sicht. Immer dann, wenn wir denken, dass wir sie sehen müssten, ist sie schon weg. Verschwunden. Und doch da. Es gibt keine Worte, die die Depression beschreiben könnten, keine Form in die sie reinpasst, es sind nur Ahnungen. Körper-Ahnungen, unbeschreiblich, immer wieder einzigartig. Sie droht uns nicht, sie bedroht uns als abgeschlossenes Ich, als ein Wir, an das wir uns umso mehr klammern. Je intensiver die Depression, desto stärker unser Versuch zu bleiben, uns festzuhalten an das was wir zu kennen meinen, an ein Ich-Selbst, ein vernünftiger Gedanke, die uns beweisen sollen, dass wir noch hier sind, dass es uns gibt, dass wir real sind. Die Depression löst uns auf, sie ist das absolute Aufgelöste, Zerteilte, Zerstückelte, das Meer an Muscheln, die nurmehr Sand sind. Doch die Depression ist nicht, sie wird. Ein Werden des «Nicht-Mehr» und des «Noch-Nicht». Wir können sie deshalb nicht sehen, weil sie nicht ist, wir können nur die Kraft spüren, weil es das ist was die Depression ausmacht, ihre Kraft auseinanderzureißen, zu deterritorialisieren. Und wo sind wir, wenn die Depression überall ist, alles mit sich reisst? Wir halten uns an Ankerpunkten, welche wir zu unserer Welt machen, zu unserem Selbst. Die Ankerpunkte können irgendetwas sein, das haben sie alle gemeinsam, sie sind das eigentliche [Etwas]. Im Strudel der Depression hangeln wir uns von Ankerpunkt zu Ankerpunkt, die Gravitationsenergie des Ankerpunkts hält uns für kurze Zeit fest. Die Panik davor Weggeschwemmt zu werden, in ein «Nicht-Mehr» abzutauchen, lässt uns unaufhörlich Ankerpunkte schlagen. Das beschreibt den Charakter des depressiven Menschen, der versucht [Etwas] zu sein, [Etwas] zu glauben, [Etwas] zu denken, um nicht Nichts zu sein. Wir sind dieser depressive Mensch, der die Depression immer in seinem Nacken spürt, die ihn lähmt, aber auch antreibt, dem seine kleine Welt alles bedeutet. Es gibt kein Entrinnen, wir haben nur diese kleine Welt, wenn wir sie auch ständig austauschen, gegen eine neue kleine Welt, einen neuen Ankerpunkt, den wir wiederum als umfassend und ewig wahrnehmen, der alles für uns ist, gehalten von der Gravitationsenergie. Tatsächlich hätten wir jetzt Ruhe vor dem Sturm, vor der Depression. Doch das haben wir nicht. Der Ankerpunkt, der uns Sicherheit zu geben vorgibt ist nicht stabil, er ist nicht mal ein richtiger Punkt, wenn man ihn von verschiedenen Seiten betrachtet. Der Ankerpunkt ist ein Leck, durch den die Strömungen durchfliessen, ähnlich einem schwarzen Loch, wo Licht und Materie scheinbar in die Mitte gezogen werden. Wir müssen mit Stephen Hawkings Theorie davon ausgehen, dass schwarze Löcher Durchgänge sind. Nur von der Seite der Gravitationsenergie wirkt es wie ein stabiles Gestirn mit Masse, Anziehungskraft und der Möglichkeit sich zu halten. Auf der anderen Seite spritzt und springt es in alle Richtungen, die Strömungen des Lichts, des Denkens, der Zeit, des Lebens. Ein stummer angsterfüllter Schrei geht durch den ganzen Körper. Halt mich fest! Ich zittere, ich, wir. Jedem meiner Zellen ist kotzübel. Ich bin meine Zellen. Diese Zellen sind ich. Fragmentiert, zerteilt. Es gibt kein Aussen, nur Auseinanderreissen, Zusammensetzen. Denn wir wissen nicht was wir tun, es gibt keine Außen-Perspektive, die uns erlauben würde auf uns zurückzuschauen. Uns bleibt nichts anderes übrig, als uns auf unsere wechselnden Ankerpunkte niederzulassen. Und doch können wir ein bisschen wie der kleine Prinz sein und von Ankerpunkt zu Ankerpunkt springen. Aber wir können nicht mehr zurück. Jeder neue Ankerpunkt ist ein Ereignis, das irreversibel unsere Welt erschafft, uns produziert. Die Ankerpunkte sind jedoch nicht in einer absoluten Kontingenz, sondern zwischen relativer Kontingenz und Macht-Beziehungen. Der Ankerpunkt als eigentlicher Subjektivierungspunkt des depressiven Menschen wird hart umkämpft, durch Wahrheitsregime, maschinische Indienstnahme, prekarisierende Regierungstechniken und Ordnungskräfte. Eingepasst in die dividuelle Mehrwertproduktion. Der depressive Mensch soll in Wert gesetzt werden. Seine Panik urbar gemacht, das Festhalten produktiv, seine Unproduktivität verrechnet werden. Die grauen Männer sortieren und überwachen die Zeit, die Kontroll-Gesellschaft überblickt die Normalisierung der Körper und Gedanken, die Kasse klingelt, der depressive Mensch ächzt. Das Ächzen, welches Nietzsches Esel sehr nahe kommt, ein I-A, als lad-mir-auf. Mit einer Rübe vor dem Gesicht stapft er geradeaus. Und wenn der Esel nicht mehr kann, wird sein Nicht-Mehr-Können ausgeschlachtet. Für den depressiven Menschen sieht es ganz ähnlich aus, so war die Zerteilung, das Schlagen der Ankerpunkte einst ein widerständiger Akt der produktiven Verweigerung, ist dieser heute eingereiht in die Trophäenschränke des Fortschritts. Nicht mehr die individuell hergestellten Produkte sind relevant, sondern die dividuellen Ströme, Subjektivierungsweisen und Zeit-Management. Optimiert wird nicht die Arbeitsleistung, sondern die maschinische Funktionalität. Somit gerät die Logik der Fabrik als Ort der Produktion, die sich ausbreitet in den Hintergrund. Nicht die Arbeit produziert Mehrwert, die Verschuldung des Lebens bezahlt den Zins. War es die Ordnung der Fabrikarbeit die sich ausgedehnt hat in eine erkämpfte Freizeit, in eine marktwirtschaftliche Austausch-Ideologie, in Wissensfabriken etc., ist es heute ein deterritorialisierende Vernetzung, die quer zu den Körpern und Staaten als Strom selbst produziert. Prekarisiert werden dabei alle Formen von Zuständen/Staaten.1 Die Illusion von Sicherheit muss teuer erkauft werden. Der depressive Mensch, der jederzeit die Depression spürt, weiss, dass nichts für ewig ist und kommt nur noch mehr in Panik, etwas zu Halten, Zustände zu produzieren, welche ihm durch die Hände rinnen. Wenn wir uns umschauen, sehen wir überall depressive Menschen, die sich an etwas klammern, bevor das Nächste kommt, das Nächste und so weiter. Wild klickend und nickend produziert er sich als virtueller Fingerabdruck in der Big Data der Marketing-Industrie, welche sein Heer von prekarisierten Gratis-Arbeitskräfte rund um die Uhr beschäftigt. Klick, klick, Gratis, Kaufen. Wer produziert heute noch für Wen? Eine schwierige Frage, wenn wir nicht einmal mehr etwas produzieren oder gar kaufen müssen, um uns zu den Arbeiterinnen einzureihen. Ein grossartig Ding ist doch die Sklaverei ohne dieses nicht mehr notwendige Übel Individuen einzusperren und zu füttern. Wir sollten uns manchmal naiv verhalten, wie wir sind: Für wen arbeiten Zeitungsverlegerinnen, Autorinnen, Web-Redaktorinnen, Programmiererinnen, Managerinnen, Brokerinnen? Wohl kaum für die, die ihre «Ware» konsumieren, sondern für Prozente, Werbeeinnahmen und Tages-Bilanz der Börsen. Zu einfach? Also, wer produziert denn diese Prozente, Werbeeinnahmen, Tages-Bilanzen? Jetzt wirds schon schwieriger, weil es mit einer dividuellen Marketing-Produktion funktioniert, während alle die vorher erwähnten Sklaven Daten produzieren, welche den Marketing-Gegenwert in Prozenten, Werbeeinnahmen und Tages-Bilanzen bescheren. Was hat das wiederum mit dem depressiven Menschen zu tun? Naja, er ist der Sklave. Und wenn er nicht mehr klicken kann, wird sein Nicht-Klicken sicher irgendwo auf einer Rechnung auftauchen.

Wir können heute niemanden vereinzelt feststellen, der nicht prekarisiert oder auf der anderen Seite der prekarisiert ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass es kein Individuum, kein Körper gibt der nirgendwo gefährdet ist. Sei es nur schon die Tatsache, dass der Körper eines Tages sterben wird. Selbstverständlich, so blind kann man nicht sein, gibt es stärker oder weniger stark Betroffene, für die der Kampf ums Überleben ein tägliches Problem darstellt. Es gibt Macht-Verteilungen, Ein- und Ausschluss, perifäre Zuschreibungen, polizeiliche und staatliche Ordnungsprozesse. Keine Gewalt, keine Rasterung ist legitim, alles ist geworden und somit veränderbar. Genauso ist auch das Denken geworden, die Sprache, Gefühle, die Grundlage, auf dem Subjektivierung und Individuierungen stattfinden. Es gibt kein Raushüpfen für eine bessere Welt, für die Rettung. Wir müssen Brüche produzieren, die uns zwangsläufig selbst (ab-)brechen. Doch dürfen wir damit nicht der Regierung des Prekären den Gefallen zu tun, uns selbst zu prekarisieren, uns zu vereinzeln, im Sinne einer zellhaften Ortbarkeit. Es gibt immer etwas zu tun. Einsam ja, alleine nein. Wiederum ist dies nicht im Sinne einer normativen Produktivität zu verstehen, im Gegenteil. Nicht mehr Produktion, weniger Produktion von [Etwas], ein Experimentieren mit dem Unfertigen, Ungefertigten, Unpassendem. Die Ströme des Gefüges umleiten, Karten zeichnen, statt Gesichter abzupausen.

Prekär-Sein, Prekarisierung, Prekarität; keine Begriffe die Jemanden beschreiben, kein [Etwas], sondern vielmehr ein Wie. Es gibt keine ortbare Regierung der Prekären, keine Selbst-Regierung der Prekarität, keine Prekarisierung an sich. Es sind Begriffe des Lebens und Überlebens. Zwischen ständigem Vergessen, Zerstören, Zerstört-Werdens und dem Damokles-Schwert, das am Pferdehaar über dem Kopf schwebt. Ein ewiges Schweben, ein dunkler Schatten, dem wir nicht entfliehen können. Denn es ist die Flucht selbst. Nicht der Tod als Zersetzung des Körpers, sondern der sich stetig wiederholende Tod in den tausend kleinen Ereignissen. Und genau da setzen die Werkzeuge der Regierung an, nicht in dem sie die eigentliche Prekarisierung produzieren, sondern im Gegenteil, das Prekäre selbst prekär behandeln. Das Prekäre wird abgetrennt, geordnet, konserviert, aufgelöst und ignoriert. Grenzlinien umreißen das Normale, das Sichere, die Ordnung und die heile Welt. Während somit minoritäre, düstere, versteckte Bewegungen ungesehen bleiben – das prekäre Gefüge der Depression. Ihre Kraft durchquert uns, die Zeit, die Arbeit und das Soziale. Der benebelte, depressive Blick steht der polizeilichen Ordnungsmacht gegenüber, die klare Konturen zieht und konstruiert. Doch wir selbst, die Zeit, die Arbeit, das Soziale sind weder konturierbar noch [Etwas] per se, sondern bewegungsunscharfe Gefüge, maschinisch stampfende Funktionen. Zuschreibungen sind Gewalt, reine Herrschaft, illegitime Hierarchie. Und doch brauchen wir sie, um überhaupt denken zu können. Wir brauchen die Gewalt genau dann, wenn wir Pazifistinnen sind, wir brauchen die Herrschaft dann, wenn wir Anarchistinnen sind, wir brauchen Hierarchie, wenn wir eine Vielheit erschaffen wollen. Der Boden auf dem wir stehen ist übersäht mit Leichen und totem Gewebe, ein grosses Durcheinander aus «Nicht-Mehr» und «Noch-Nicht».

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