Das Aufbrechen der Schließung: «Links wird die Machtfrage wieder gestellt»
Das Interview fand statt im Rahmen des Europa-Kongresses (Besprechung hier) der WOZ im Zürcher Volkshaus und wurde zuerst beim Kulturmagazin Saiten publiziert.
Thomas Seibert, du bist, was im deutschen Sprachraum eher selten ist, Aktivist und Philosoph. Wie wurdest du zum Aktivisten, wie zum Philosophen, und wie bringst du das zusammen?
Ich habe das Glück gehabt, ganz jung, anfangs der 70er Jahre, Aktivist zu werden. Bei meiner ersten Hausbesetzung, im Jahr ’71, war ich 13 Jahre alt – und war nicht der einzige 13-Jährige. Gelesen hab ich tatsächlich immer schon, und hab das auch getan, als ich Aktivist wurde. Dann kam der nächste große Schnitt, das war der deutsche Herbst 1977 und die mit ihm einhergehende Frage: Warum hören die Leute auf, zu revoltieren? Warum machen sie nicht weiter? Warum geben sie auf? Fragen, die mich in der Folgezeit vorübergehend ganz von der Politik weggetrieben haben. Ich hörte auf, Aktivist zu sein, und vertiefte mich in Philosophie, aber auch in Poesie, Literatur und Kunst. Irgendwann hab ich dann der Philosophie die Leitung gegeben. Dennoch blieb ich politisch interessiert, und ab 1989, insbesondere mit den rassistischen Ausschreitungen in Deutschland nach der Wiedervereinigung, wurde mir klar, dass ich auch wieder Aktivist werden musste. Seitdem geht beides zusammen.
Du warst damals in Frankfurt aktiv?
Ja, genauer gesagt in Rüsselsheim, einer Kleinstadt bei Frankfurt, der Stadt, in der die Opel-Autos produziert werden: ein Dorf, das durch die Fabrik zu einer fast reinen Arbeiterstadt wurde. Alle linken Gruppen, die es in den Siebzigern in Deutschland gab, haben ihre Reisekader nach Rüsselsheim geschickt, weil sie glaubten, da endlich auf die Arbeiterklasse zu treffen. Das hat schlussendlich nicht geklappt – sieht man von den Jugendlichen ab, die wir damals waren. Wir haben uns dann der undogmatischen Linken angeschlossen, den Spontis, die im Rhein-Main-Gebiet die stärkste Position innehatten.
Philipp Felsch schrieb unlängst ein Buch über den «langen Sommer der Theorie» zwischen 1960 und 1990, worin deutlich wird, wie in Frankreich erst vor allem der Existenzialismus Sartrescher Prägung vorherrschte und in Deutschland natürlich die Frankfurter Schule. Bei dir kommt aber der jüngere Poststrukturalismus hinzu. War der überhaupt Thema in den deutschen 70ern?
Es gab in der undogmatischen Linken schon ganz früh eine Rezeption des Poststrukturalismus. Auf dem berühmten Tunix-Kongress ’78 in Westberlin beispielsweise hat auch Michel Foucault gesprochen. Insofern gab es eine Vorbereitung. Ich persönlich habe dann, über die Erfahrung des deutschen Herbstes, den umgekehrten Weg eingeschlagen, den die 68-er gegangen waren. Viele 68-er haben in den frühen 60er Jahren existenzialistische Philosophie und Literatur gelesen und sind dann zu Marx gekommen. Für mich war es umgekehrt, ich hab mit Marx angefangen und bin bei Nietzsche gelandet – eben über der Frage: Warum hören die Leute auf? Warum sind sie offensichtlich unwillig, frei zu sein, um ihre Freiheit zu kämpfen? Dies trieb und treibt mich um. Natürlich habe ich Nietzsche von links her gelesen, so, wie ich dann auch Heidegger und Bataille von links gelesen habe. Das hat mich zur französischen 68er Philosophie geführt, zum sog. Poststrukturalismus, der in gewisser Weise ein Linksnietzscheanismus, ein Linksheideggerianismus ist.
Gab es im deutschen Sprachraum etwas Vergleichbares?
In dieser Form nicht, das hat mit der deutschen Geschichte zu tun, mit der Rolle, die Nietzsche und Heidegger im bzw. für den Faschismus gespielt haben. Da gab es eine Blockade – obwohl gerade Adorno immer Nietzsche und heimlicher auch Heidegger gelesen hat. In Frankreich war das anders, maßgeblich durch den Surrealismus der 20er und 30er Jahre, da war es schon üblich, Nietzsche und Marx zusammen zu bringen. In dieser Intensität hat es das in Deutschland nicht gegeben.
Du beziehst dich in deinem neuen Buch Zur Ökologie der Existenz auf Félix Guattari und dessen «drei Ökologien», welche sich nicht auf einen «Idiotismus des Landlebens» beziehen, wie du schreibst, oder, wie Guattari betont, nicht mit einzelnen «Titular-Spezialisten» oder «Naturliebhabern» konnotiert werden dürfen. Eine solche Ökologie betrifft Soziales, Mentales und die Umwelt gleichermaßen. Das ist nicht mehr bloß eine «grüne» Politik…
Erstmal grundsätzlich auf der philosophischen Ebene: Wenn man die Mehrzahl der Ökologien anschaut, dann sind das Lehren der Umwelt, in der wir primär als Lebewesen figurieren. Diesen Lebewesen wird zugeschrieben, maßgeblich vom Selbsterhaltungstrieb getrieben zu sein, so wie der Umwelt zugeschrieben wird, nur auf die Reproduktion ihrer selbst, auf die Erhaltung des Ökosystems aus zu sein. Die meisten Ökologien nehmen von diesem Punkt ihren Ausgang. Was ich mit Ökologie der Existenz meine, ist etwas ganz anderes: eine Ökologie, die ihren Ausgangspunkt nicht in Lebewesen, sondern in der Existenz nimmt, das heißt in einem Wesen, das durch Freiheit und durch Geschichte bestimmt ist, und eben nicht einem Selbsterhaltungstrieb, sondern der Freiheitsbegierde folgt. Nimmt man das ernst, muss man sagen: Frei ist das Wesen, das gerade und sogar von seiner Selbsterhaltung absehen kann und darin mehr als nur ein Lebewesen ist. Und insofern stelle ich mit der Ökologie der Existenz etwas vor, das schon vom Ansatz her jenseits der üblichen Ökologien liegt.
Natürlich gibt es da einen Bezug zu Guattari, zu Bataille, zu Heidegger und Nietzsche. Es geht um eine Ökologie, also um eine Lehre von der Welt als Umwelt, die sich der automatischen Reduktion des Ökologischen auf die Reproduktion seiner selbst entzieht und stattdessen fragt, ob das Ökologische nicht umgekehrt auf Verausgabung aus ist: auf die zweckfreie Überschreitung von Selbst und Welt zugleich. Wie bei den anderen Ökologien ergibt sich dann politisch ein Widerspruch zur Ökonomie, besonders zur kapitalistischen Ökonomie, die auf die zerstörerische Vernutzung alles Lebendigen in der Selbstverwertung des Kapitals aus ist. Doch wird dieser Widerspruch nicht im Namen der Selbsterhaltung des Lebens, sondern im Namen seiner freien Verausgabung ausgetragen, im Vollzug also eines radikal anti-ökonomischen Impulses. Wenn die kapitalistische Ökonomie der Exzess der Reproduktion ist, also der Exzess der Selbsterhaltung, dann setzt die Ökologie der Existenz auf ein anti-ökonomisches Weltspiel, auf Nietzsches «Unschuld des Werdens».
Das ist verwandt mit der Frage der Sorge, welche auf der einen Seite konservativ (im Wortsinn von «Erhaltung», z.B. hinsichtlich der Staatsraison) gewendet sein könnte, aber wenn sie feministisch als Care-Frage verstanden wird, in Richtung einer emanzipatorischen Ökologie weist.
Genau. So wie man die Frage der Ökologie neu aufwerfen muss, wenn man sie von der Existenz aus denkt, genauso muss man auch die Frage der Sorge, die der Feminismus zu Recht ins Zentrum des Politischen gestellt hat, von der Existenz aus denken: Geht es um die bloße Reproduktion, oder geht es, im Leben oder in der Sorge für das Leben, um einen Prozess der Verausgabung, der Selbstüberschreitung auf ein Anderes hin. Das kann der oder die Nächste, das kann die ganze Welt sein.
Du schreibst von Luce Irigarays psychoanalytischem Konzept des Mukösen, des Schleims, welches du vorstellst als nächste Sphäre «der Umwelt allen Existierens», die als «Nicht-eins der Existenz und der Welt» von der maskulinistischen Sphäre der Einheit, der Phallokratie sich unterscheidet, und von der Queer-Theory, welche das zur Vielheit bringt. Nun beschrieb der Astrophysiker Neil deGrasse Tyson vergangene Woche in der Daily Show eindrücklich, wie das Bewusstsein sich unweigerlich ändert mit dem Wissen, dass wir alle nur Stardust, Sternenstaub sind. Könnte zwischen Sternenstaub und Schleim ein neuer Materialismus der Vielheit gefunden werden?
Das Muköse mit dem Sternenstaub zusammenzubringen, gefällt mir sehr: das sind zwei Medien oder zwei Bezüge einer Überschreitung der Weise, in der wir uns normalerweise als Subjekt vorfinden – als die klar abgegrenzte Person, die sich in ihrer eigenen fixen Identität einhaust und sich der Reproduktion ihrer selbst unterwirft. Diese Subjektivierung löst sich im Bezug auf das Muköse auf, sie löst sich aber auch auf, wenn man sich auf den Sternenstaub bezieht. Und das ist eine höchst materialistische Angelegenheit, dem würde ich auf jeden Fall zustimmen.
Du hast neben Philosophie auch Ethnologie und Kulturanthropologie studiert. Gegen Ende des Buches kommst du auf drei «Plattformen» zu sprechen: das Postwachstum, die Idee des Guten Lebens, wie sie etwa im Quechua-Konzept des Sumak Kawsay (buen vivir/gut leben) gefasst wird, und die Revolution der Menschenrechte. Wie geht das zusammen?
Die Idee der «Plattformen» entnehme ich Michael Hardt und Toni Negri. Sie bezeichnen mit diesem Begriff einerseits so etwas wie ein gemeinsames Programm der Bewegungen und der Kämpfe, also eine Übereinkunft über gemeinsam zu erkämpfende Ziele, Rechte bzw. Forderungen, und andererseits den Prozess des Durchkämpfens und zuletzt der Durchsetzung solcher Ziele, Rechte und Forderungen. Eine Plattform stellt also so etwas wie einen organisierenden Prozess dar, ein Programm, das zugleich Organisation wäre. Darüber hinaus ist eine Plattform ein Ort der Subjektivierung, der Bildung politischer Subjekte. Für mich ist sie schließlich auch eine Korrespondenz von philosophischer und politischer Praxis. Davon inspiriert habe ich die drei Plattformen des Postwachstums, des guten Lebens und der Menschenrechtsrevolution ins Spiel gebracht, die intern miteinander verbunden sind. Das Postwachstum ist für mich die zentrale politische Frage, die Frage einer Überschreitung der kapitalistischen Produktionsweise hinzu einer sozialistischen-kommunistischen Produktionsweise, die heute nur eine Anti-Ökonomie des Postwachstums sein kann. Deswegen fange ich mit dieser Plattform an.
Die Frage nach dem «guten Leben» ist der Frage nach dem Postwachstum verbunden, weil wir dem Ausstieg aus dem kapitalistischen Wachstumszwang nur zustimmen werden, wenn wir ihn als Einstieg in ein «gutes Leben» erfahren können. Das Problem ist, dass sich viele Vorstellungen eines «guten Lebens» einer kitschigen Lektüre der in dieser Debatte leitenden indigenen Vorstellungen verdanken – so wie sich unsere Begriffe von «Leben», «Umwelt» oder «Natur» oft kitschigen Lektüren verdanken. Wenn begeistert von der «Großen Mutter» oder der «Mutter Kosmos» gesprochen wird, muss man erinnern, dass sich der Kult um «Pachamama» erst der kolonialen Christianisierung verdankt, einem Arrangement mit dem aufgeherrschten Marienkult. Zuvor ging es nur um «Pacha», ein kosmisches Geschehen jenseits von Gut und Böse, das von einer anti-ökonomischen Dynamik der Verausgabung bestimmt wird und einiges mit dem zu tun hat, was Guattari die «Chaosmose» nennt und als eine zugleich mentale, soziale und umweltliche Ökologie versteht. Hält man das fest und hält man sich von allen Anwandlungen des Kitsches frei, dann kommen in der Suche nach einem «guten Leben» indigene Bezüge ebenso zum Tragen wie viele Anknüpfungspunkte von anderswo, auch solche der christlichen, jüdischen oder islamischen Mystik, der asiatischen Spiritualität. aber auch Bezüge, die sich in Europa der Bewegung verdanken, die von der Romantik auf den Surrealismus, aber auch auf die zugleich postsäkularen und postreligiösen Momente der Pop-Kultur führt.
Denkt man das «gute Leben» von dort her, dann ist die Frage des Postwachstums nicht mehr die Frage einer Askese, die wir uns aufzulegen hätten. Sie stellt sich als Frage nach einem neuen und anderen Leben, in gewisser Weise auch als die alte revolutionäre Frage nach einem neuen Menschen. Genau aus diesem Grund aber beziehe ich mich an dritter Stelle auf eine Plattform der Revolution des Menschenrechts. In den modernen Revolutionen ging es stets auch um eine Vertiefung und Erweiterung dessen, was zu Beginn, in der französischen und amerikanischen Revolution, als Menschenrecht gedacht wurde: ein Leben, das sich weder durch theologische noch durch kosmologische Gesetze, sondern nur durch sich bestimmt, in der Vereinzelung wie im Gemeinsamen. In bleibend problematischer, stets umkämpfter Weise nennen die Menschenrechte die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen jede von uns das möglichst zwanglos versuchen kann. Das ist unverzichtbar, wenn es um die Frage eines neuen Menschen geht, die historisch ja viele grauenhafte Antworten gefunden hat. Politisch konkretisiert: Hängt ein Übergang zu einer Anti-Ökonomie des Postwachstums an individuellen und kollektiven Praktiken eines «guten Lebens» aus Freiheit, dann hängen diese Praktiken an Vertiefungen und Erweiterungen einer Revolution des Menschenrechts. Die Freiheit entscheidet.
Du beziehst Dich auf verschiedene Formen des Politischen: auf Dialektiken von Reform und Revolution, Aufbrüche von Revolten und auf reformatorische Prozesse. Wie verhalten sich die zueinander?
Damit kommen wir wieder auf die 1960er, 1970er Jahre – und auf die Zukunft zurück. Foucault hat gesagt, dass wir die emanzipatorische Dynamik dieser Jahrzehnte am ehesten verstehen, wenn wir sie mit dem Prozess der Reformation im 15. und 16. Jahrhundert vergleichen: einem Prozess, in dem Kämpfen um neue Formen der Subjektivität die Führung im Gefüge aller sozialen und politischen Kämpfe zukam, namentlich einerseits der Kämpfe gegen Herrschaft und andererseits der Kämpfe gegen Ausbeutung. Ich glaube, dass Foucault hier präzise das Besondere dieser Epoche und hoffentlich auch der kommenden Epoche trifft. Interessanterweise nimmt das Intuitionen Gramscis auf, für den die Dreifalt von marxistischer Philosophie, kritischer Gesellschaftswissenschaft und Politik der Arbeiterbewegung letztlich ebenfalls den Charakter einer Reformation annahm, über Revolte, Reform und Revolution hinaus.
Das verbietet aber eine schnelle Setzung und deutet hin zu der postoperaistischen Frage des Konstituierenden, d.h. zu verfassenden statt verfassten Prozessen, zu Toni Negri.
Ja, wenn man sich einen Reformationsprozess vorstellt, dann verortet man sich in einem Prozess, der sehr lange dauert, einen Prozess von vermutlich mehreren Jahrhunderten. Gleichzeitig ist dies aber ein Prozess, in dem wir jetzt schon stehen. Deswegen halte ich es für sinnvoll, auf der politischen Ebene auch Politiken der Reform in den Blick zu nehmen, wie wir sie hier auf dieser Konferenz diskutieren. Also die Frage, wie verlassen wir den Nationalstaat, welche Veränderungen der europäischen Union brauchen wir dazu: Fragen, die sich zunächst mal auf Reformen beziehen. Wenn wir die Frage des Postwachstums hinzunehmen, die Frage eines Austritts aus der kapitalistischen Produktionsweise, sind wir auf der Ebene einer sozialen und politischen Revolution. Die seit langem vertraute Dialektik zwischen Reform und Revolution hat ihren Ort dann aber im übergreifenden Prozess einer Reformation, das heißt einer Änderung des Lebens aller wie jeder einzelnen.
Es stellt sich aber immer die böse Frage, die bei dir auch Thema ist, nämlich diejenige, die aus Luc Boltanski und Ève Chiapello folgt, wie der Gefahr der Absorption des widerständischen Potentials durch den Kapitalismus entkommen werden kann.
Das ist eine der wichtigsten Fragen, die es im Politischen überhaupt gibt: Die Frage, die uns durch den Umstand gestellt wird, dass nahezu jede Bewegung der Reform, jede revolutionäre Bewegung und jede Reformationsbewegung letzten Endes in das Bestehende hinein absorbiert worden ist. Meines Erachtens stellt sich diese Frage auf mindestens zwei Ebenen. Die Einzigartigkeit des Kapitalismus als einer spezifischen historischen Ordnung besteht darin, dass er sich systematisch durch die Vereinnahmung aller Revolten reproduziert, die gegen ihn gerichtet waren, und dass er dazu auch die Krisen nutzt, in die er dabei gerät. Krisen und Revolten sind gerade das Milieu, in dem sich der Kapitalismus erneuert und entwickelt. Das bedeutet, wenn wir schon bei Boltanski und Chiapello sind, dass der Kapitalismus trotz der Verwüstungen, die er weltweit anrichtet, historisch bis heute auch eine Emanzipationsbewegung geblieben ist. Das hat er nach ’68 nochmals neu bewiesen, indem er viele emanzipatorische Impulse absorbieren, d.h. verwerten konnte. Diese einzigartige Fähigkeit zur Absorption müssen wir in Rechnung stellen, wenn wir antikapitalistische Politik machen wollen. Das bedeutet zum Beispiel, wenn ich das aktuell auf den Punkt bringe, dass es falsch ist, den Neoliberalismus immer nur als Bewegung des Verlustes oder der Repression in den Blick zu nehmen. Der Neoliberalismus hat sich immer mit Freiheitsbegierden verbunden und wenn wir jetzt anfangen, sozusagen hinter den Neoliberalismus ins fordistische Gefängnis der 60er und 70er Jahre zurückzukehren, wird uns niemand folgen. Das ist ein wesentlicher Grund, warum die Linke nicht nach vorne kommt. Wir müssen die umgekehrte Frage stellen: Wenn es so ist, dass der Kapitalismus sogar die emanzipatorischen Neuerungen von ’68 absorbiert hat, wie müssen wir sein Spiel überbieten, um die emanzipatorische Perspektive wiederzufinden?
Das wäre die Ebene, auf der sich diese Frage politisch mit Blick auf den Kapitalismus stellt. Dann gibt es eine philosophische Ebene. Das ist die Frage der Freiheit und der notwendigen, inneren Verbindung zwischen der Freiheit und der freiwilligen Knechtschaft als einer Möglichkeit der Freiheit selbst. Das ist das subjektive Moment im engeren Sinn des Wortes, das für mich den Ausgangspunkt des Philosophierens bildet: Warum, verdammt nochmal, hören die Leute auf, sich aufzulehnen und nach etwas anderem zu suchen? Das ist für mich nach wie vor die Leitfrage und auch die lässt sich beantworten im Blick auf die Absorption der Revolten ins Bestehende. Allerdings geht es dabei nicht um Moral, nicht um ein Aburteilen der Anderen, sondern um eine Kunst: um das Widerspiel unterschiedlicher Künste der Freiheit – Revolten, Reformen, Revolutionen, Reformationen, in ihrem Vor und Zurück.
Gestern kam mit der Intervention von Catarina Principe, einer Aktivistin des portugiesischen Bloco de Esquerda, die Frage des Nationalstaats zur Sprache, als sie bemerkte, die Kämpfe müssten unbedingt in diesem Rahmen weiter geführt werden. Du hast auf dem Panel vorhin der Genossin geantwortet, in den Nationalstaaten sei überhaupt nichts mehr zu gewinnen, diese gälte es zu überwinden. Eine weitere Eigenart, die ja schon Marx am Kapitalismus feststellte, war dessen Tendenz zum Weltmarkt. Was haben die Nationalstaaten also überhaupt jemals gebracht?
Zumindest in Europa stehen die Nationalstaaten in gewisser Weise am Anfang der Revolutionsgeschichte, im Prozess der Überwindung der feudalen Herrschaft, die ja genau nicht national organisiert war, beziehungsweise diese Ebene gar nicht kannte. Insofern war das zunächst ein Projekt mit starken emanzipatorischen Momenten, die es aber längst verloren hat – ohne dass man sagen könnte, die Frage sei ganz erledigt. Es gibt wichtige Kämpfe der Gegenwart, der kurdische Kampf zum Beispiel, die nach wie vor in dieser Dimension begriffen werden können, die aber bezeichnender Weise dort stark sind, wo sie sich eigentlich von ihrer nationalistischen Herkunft gelöst haben. Die Wende in der kurdischen Befreiungsbewegung von der Schaffung eines unabhängigen Kurdistans hin zu einer Bewegung, die für die Demokratisierung der ganzen Türkei bzw. des westlichen Asien kämpft und dort sich bewährt, ist ein Beleg dafür. Selbst dort, wo Leute wegen ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer Sprache einer massiven Unterdrückung ausgesetzt sind, reicht ein nationalistisches Projekt emanzipatorisch nicht mehr zu. Und auf der Ebene der Kongress-Frage, wie wir mit dem Faktum der Europäisierung, der Transnationalisierung umgehen, ist der Nationalstaat pragmatisch zwar nach wie vor ein Terrain des Kampfes, von dem wir nicht absehen können, weil wir darin gefangen sind und nicht einfach rausspringen können. Doch müssen wir dieses Gefängnis wirklich auf- und abbrechen, statt uns dort neu einzurichten, und sei’s mit «linker» Agenda! Deshalb müssen wir uns noch von dem natürlich bloß strategischen oder methodischen Nationalismus lösen, für den Catarina Principe und viele andere eintreten. Emanzipatorisch hat die Nation nichts mehr zu bieten, jeder emanzipatorische Schritt wird ein Schritt raus aus der Nation sein müssen.
Betrachten wir den spanischen Staat, die Unabhängigkeitsbewegungen in Katalonien und Baskenland, wie auch die neuen linken Bewegungen. Diese sind auf der Seite von Podemos stark von der Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe und deren Vorstellung eines linken Populismus geprägt; auf der anderen finden sich die Basisbewegungen, die Munizipalismen in den Metropolen. Darin findet sich sicherlich die revolutionäre Urbanistik, die bei dir auch Thema ist, die auf der anderen Seite doch auch eine gewisse Beschränkung erfährt. Der Aktivist Pantxo Ramas erklärte anhand des Beispiels von Barcelona einmal, wie auch eine munizipalistische Stadt die Unmenschlichkeit der Migration nicht entscheidend ändern könnte: wir müssten Schiffe senden!
Die Beschränkung auf einen bloßen Munizipalismus wäre genauso fatal wie die Beschränkung auf den Nationalismus, und würde letztlich nichts Wesentliches ändern. Man hätte das Territorium verkleinert, das wäre alles. Der Anfang liegt darin zu verstehen, dass die Stadt prinzipiell eine Umwelt der Begegnung und des Zusammenlebens von Fremden ist. Das wäre der erste, prinzipielle Punkt. Deswegen ist die Frage der Migration und die Frage einer Autonomie der Kommunen gerade in ihrem Zusammenhang so wichtig, so entscheidend, auch in den gegenwärtigen Bewegungen. Der zweite Schritt aber liegt in der Linie des Reformvorschlags, den Gesine Schwan und andere gemacht haben und den ich vorhin zitiert habe: dass die Europäische Union einen großen Fonds auflegen soll, der Städten zur Verfügung stehen wird, die Migrant*innen zum Ort einer gelingenden Ankunft werden wollen. Die Mittel, die dieser Fonds an Städte vergibt, sollen dabei nicht bloß der Deckung migrationsbezogener «Unkosten» dienen, sondern ihrer sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklung, dem Ausbau ihrer sozialen Infrastruktur überhaupt. Damit verbindet sich die Idee einer Föderation von Städten und ihrer Verbindung mit einer transnationalen politischen Struktur, über die Ebene der Nationalstaaten hinweg, bei uns also der EU. Sie allein wird verhindern, dass es in einer Föderation befreiter Städte zum Ausbruch einer zwischenstädtischen Konkurrenz elendster Art und Weise käme, zum Rückfall in eine Kleinstaaterei, die nur furchtbar sein kann. Die Nationalstaaten bleiben dabei insoweit im Spiel, als sie im Rahmen der EU in ein Verhältnis des Ausgleichs zu treten haben, der von Deutschland dann die Mittel abfordert, die Griechenland gar nicht aufbringen kann. Der Druck dazu käme von unten und von oben: von den Städten, und von der transnationalen Ebene. Das scheint mir ein entscheidendes politisches Projekt zu sein.
In einer Fußnote sprichst du das Freihandelsabkommen TTIP an, welches den Bewegungen einzig noch die Forcierung eines «revolutionären Bruchs» offen lassen würde. Nun sind diese Abkommen wegen der protektionistischen Politik von Trump ausgesetzt, was auch nicht nur Grund zur Freude ist. Guattari warnte schließlich schon 1989 vor Donald Trump, der damals insbesondere als großer Gentrifizierungsagent «tätig» war. Die Betroffenen dieser Vertreibungspolitik vergleicht Guattari mit den toten Fischen im Meer. Hat sich seither der Maßstab einfach vergrößert?
Also zunächst mal ist für mich TTIP ein weiteres Beispiel, dass sich der Kampf auf transnationale und globale Abkommen und auf die damit gesetzte Ebene des Politischen verschoben hat. Wie aber erkämpft man eine globale Ebene des Politischen, auf der man um die Abkommen kämpft, die diese globale Ebene überhaupt erst schaffen und herstellen? Das ist eine der wesentlichen Auseinandersetzungen und verbindet sich wieder mit der Frage des Verhältnisses von befreiten Städten und einer transnationalen Ebene, die die Ressourcen für eine freie Entwicklung der Stadt bereitstellt. Das lässt sich natürlich in nochmals größerem Maßstab denken, nicht nur in einem abstrakten Sinne. Weil es globale Abkommen gibt, weil der globale Kapitalismus zunimmt, weil er sich in dieser Art und Weise reguliert, deswegen ist der Kampf um diese Abkommen seit den 90er Jahren, eigentlich schon früher, aber prominent seit den 90er Jahren in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzungen getrieben, meines Erachtens wird er es auch bleiben.
Zuvor auf dem Podium hast du von der heutigen politischen Situation gesprochen, die zum ersten Mal seit den 80ern ein offene sei. Es stellt sich aber in diesem konkreten Wahlkampf und nach den Ereignissen von Hamburg die Frage, ob nicht gerade sehr viel abgeschlossen wird. Mit den maßlosen Knasturteilen für halbe Teenager, dem Verbot der freien Plattform Linksunten-Indymedia und dem unerträglichen Talkshow-Journalismus seien nur einige der Verrücktheiten angesprochen…
Wenn ich sage, dass die Situation zum ersten Mal seit den 80ern offen ist, dann sage ich nicht, dass sie offen bleiben wird. Sie ist offen und damit ist für alle beteiligten Parteien die Frage nach Sieg oder Niederlage gestellt, nicht nur für uns, auch für die anderen Parteien. Die Niederlage wird sich wieder manifestieren in einer Schließung des politischen Raums, die Kräfte dafür liegen auch der Hand: Trump, Brexit, Orban, die wiederkehrende rassistische nationalistische Bewegung, die religiösen Fundamentalismen, Terror und Antiterror, die kapitalistische Krise. Sie alle zeigen an, dass und wie die gegenwärtige Öffnung auch wieder geschlossen werden und wie sie eine fundamentale Niederlage für uns bedeuten könnte.
Wenn man wissen will, ob die Situation offen ist, darf man sich nicht in den unmittelbaren Augenblick einschließen, sondern muss sich in einen größeren Zeitraum stellen. Die Frage der Gegenwart als Gegenstand der Untersuchung schließt ein, zu fragen, was denn die Gegenwart überhaupt ist. Meines Erachtens stehen wir in einer Epoche, die in den Neunzigern mit der triumphalen Rede vom Ende der Geschichte beginnt. Das bricht mit der von der Alterglobalisierungs-Bewegung gegebenen Antwort «Eine andere Welt ist möglich» auf, sie zeigt den Knacks an. Mit der Krise 2007/08 und mit dem Kampfzyklus zwischen 2010 und 2015 kommt es wirklich zur Öffnung: sie markieren den historischen Moment, in dem von links her zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Machtfrage wieder gestellt werden konnte – in Europa zum ersten Mal seit der portugiesischen Revolution 1974. Sie kommt mit dem Verlangen der Avenue Habib Bourguiba und des Tahrir-Platzes zurück: «Wir bleiben solange hier, bis die Regierung gestürzt wird». Gleich darauf ist sie einmal um die ganze Welt gejagt, blieb nicht auf den Arabischen Frühling beschränkt, wurde in der occupy-Bewegung gestellt, in den südeuropäischen Massenprotesten. Diese globale Korrespondenz ganz unterschiedlicher Aufbrüche und Bewegungen aufeinander ist für mich der erste Beleg für die Offenheit der Situation. Der zweite liegt in der wichtigsten politischen Erfindung dieser Jahre: der Übersetzung des Politischen von der außer- oder anti-institutionellen Ebene der Straßen und Plätze in die institutionelle Ebene der Parteien und Regierungen. In gewisser Weise waren es die Leute in den Straßen und auf den Plätzen, die sich dazu Syriza oder Podemos geschaffen haben, oder die Sanders-Kampagne oder die Erneuerung der Labour Party. In dieser Bewegung verweben sich Revolte, Reform, Revolution und Reformation ineinander und stellen dabei, erstmals seit der Oktoberrevolution, die Frage nach einer revolutionären Doppelherrschaft, auf der Straße, in den Institutionen, zwischen beiden, im Alltagsleben.
Zu dieser Bewegung gehören dann auch die Gegenbewegungen von rechts, eben als Gegenbewegungen. Der vorübergehende Abbruch, der Umstand, dass die rechte Offensive momentan in der Vorhand ist, belegt nicht, dass wir bereits verloren haben, sondern belegt genau die offene Situation, in der um Öffnung und Schließung gerungen wird. Gegenwärtig ist die Situation nach rechts gewendet, es kommt jetzt darauf an, sie wieder zu drehen. Subjektiv, nach meiner persönlichen Erfahrung, würde ich sagen, 1977, das war eine Niederlage, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern im globalen Raum, die Schließung des Aufbruchs der Sechziger, schon der Fünfziger Jahre. Soweit sind wir im Augenblick nicht: noch ist alles offen.
Thomas Seiberts neues Werk Zur Ökologie der Existenz ist anfangs Jahr beim Hamburger Laika Verlag erschienen.